Michael Pilz
Nachwort zur Publikation „Das Innen im Außen – Der Blick bei Jacques Lacan und Béla Tarr“ von Bernhard Hetzenauer, Alexander Verlag Berlin, 2013
„was bernhard hetzenauer in Das Innen im Außen gelingt, ist die sensibilisierung für jene psychophysischen prozesse, die auch bei ansicht von béla tarrs filmen und der querverbindenden lektüre jacques lacans in gang gesetzt werden und die notwendigerweise unwillkürlich in gang kommen, wenn wir uns unserer selbst bewußt werden und damit uns selbst näherkommen, aus dem unbewußten gesteuerte ängste aufgeben und fremdheit in vertrautheit verwandeln.“ michael pilz
alles ist in uns, nichts ist außerhalb.
dieser satz, dieses bild von laotzu hat mich in den frühen jahren meines lebens gepackt und seit damals nicht mehr losgelassen. es gibt auch noch viele andere bilder, die mich mein ganzes kleben lang schon begleiten, doch dieses eine, von laotzu, ist das vielleicht mich anrührendste. denn es erinnert (und erinnerte) mich daran, dass ich es bin, der die welt erlebt. meine sinne öffnen sich der welt und durch sie hindurch komme ich zu mir. und von anfang an, so kann ich sagen, wollte ich vor allem eins: zu mir selbst kommen. wer bin ich? woher komme ich? wohin gehe ich? dies waren die fragen, die allmählich in mir aufstiegen und die mich neugierig machten, neugierig auf die welt vor mir. und in mir.
im alter von etwa zwanzig jahren hatte ich das deutliche gefühl, als lebte ich in einem riesigen haus, einer art schloss, mit tausenden von zimmern, zimmerfluchten, sälen, kammern, verstecken und ich lebte aber nur in einem dieser räume und alle anderen kannte ich nicht. was ich bis dahin erkundet hatte, also kannte, war mir einigermaßen vertraut, schien es zumindest zu sein, obwohl es auch da noch viele nischen, laden und vorhänge zu erforschen, zu ent-decken gab. doch meine tiefe neugier galt den anderen zimmern und schließlich der gestalt des ganzen. die türen waren versperrt, ich hatte keine schlüssel. es waren leidvolle, aber auch schöne jahre. geduld war angesagt. ein üben an dem, was ist. vorstellung und wirklichkeit. meine neugier am unbewussten setzte sehr früh ein. ich wuchs in einer umgebung auf, die mich neugierig machte auf das, was unter dem jeweiligen oberflächlichen anschein eigentliche sache und beweggrund war.
der umweg ist das ziel.
ich bin filmer. ich mache filme und ich habe schon immer filme und nie etwas anderes gemacht. ich habe meine filme gemacht, mit haut und haar. manchmal hatte ich, rein aus wirtschaftlichen gründen, auch anderes zu tun versucht, doch davon wurde ich nicht satt und so blieb ich beim filmen, das mich zumindest emotional und geistig zutiefst sättigte.
auf grund meiner sozialisation wurde ich, oberflächlich gesehen, ein augenmensch, bei genauerem hinsehen jedoch ein ohrenmensch. selbst wurde mir das aber erst mit den jahren bewusster, nachdem ich alles mögliche versucht, ausprobiert und gelernt hatte. im bereich des films waren das vor allem technische und formale experimente, untersuchungen verschiedenartiger filmischer texturen. das heißt, mich haben die technischen, die kinematografischen möglichkeiten von film interessiert, sie wollte ich zu aller erst erkunden. ich wollte das instrument, die werkzeuge, die ich zur hand nahm und die mir halfen, mein inneres nach außen, in die welt zu entwerfen, genauer kennen lernen. anfangs geschah das alles eher intuitiv, wie aus dem bauch heraus, es waren größtenteils unvorbereitete sprünge in kaltes wasser, um erst hinterher festzustellen, überhaupt erst dann feststellen zu können, was sache war, was geschehen war, vor allem wie mir geschah. so wurden die kinoapparaturen wie kamera und mikrofon zu teilen meines körpers und durch sie hindurch konnte ich mich auf vielfältige art und weise der welt annähern und durch sie hindurch kam ich mir selbst näher. dabei war der technische aspekt des kinematographen sehr wichtig, weil die technik, unbeirrt von irgendwelchen gefühlen, vorstellungen und inneren bildern und vor allem unabhängig von unbewussten ängsten und vorlieben, aufzeichnet, „was ist“.
im vorwort zu meinem film „himmel und erde“ (1979-82, 297 minuten) steht ein weiteres „bild“ von laotzu: „nimm das, was vor dir ist, so wie es ist, wünsche es nicht anders, sei einfach da.“ und die schrift, die ich dafür verwendete, ist die tiefrot eingefärbte handschrift der damals zwölfjährigen christine, der tochter jenes gebirgsbauern, mit dem ich mich während der jahrelangen filmarbeit angefreundet hatte.
film war und ist für mich stets ein motiv, ein mittel dafür gewesen, mich selbst im spiegel dessen, was ich - und vor allem wie ich - erlebe, zu erkunden. deshalb habe ich, wann immer es mir gelang, ohne sogenanntem drehbuch und also ohne vorausgedanken gefilmt, vielleicht ähnlich den verfahren, die der komponist john cage, ein weiterer mir gut vertrauter weggefährte, eingesetzt hatte, um vor allem sich selbst zu überraschen. in einem gespräch für einen film von h. g. helms sagte er (1974) diesem, ihn hätte es nie interessiert, seine eigenen gefühle, gedanken, vorstellungen in noten umzusetzen, viel mehr wollte er erfahren, wie ihm geschieht, wenn er sich selbst unwillentlich gewissen ereignissen aussetzt, die er zwar noch antritt, wie den ball beim fussballspiel, doch diesen dann sich selbst überlässt.
so wie mein eigenes filmen mit allen nur erdenklichen technischen experimenten, mit kameras, optiken, laufgeschwindigkeiten, filmmaterialien, begonnen hatte, so experimentierte ich auch mit versuchen, das filmische geschehen möglichst fern von eigenen absichten, vorlieben und abneigungen, also fern jeder mehr oder weniger bewussten kontrolle durch mich selbst, sich entwickeln zu lassen. im grunde also alles versuche, mein wahres und nicht nur mein vorgestelltes selbst über den umweg der äußeren welt zu finden.
ich habe mich nie davor gedrückt, meine eigenen filme wiederholt zu erleben, von neuem zu erleben, mich dabei jeweils von neuem, aus einer anderen perspektive selbst zu erforschen. wie sagt man, kein ei gleicht dem anderen. jeder augenblick im leben ist neu, jeder augenblick eröffnet ein ganz neues, ein ganz anderes leben, nichts gleicht sich. Sollte einmal der eindruck entstehen, es würde sich nichts ändern, so liegt das an unserer wahenehmung. nicht an der welt. mein blick zum fenster hinaus ist jedesmal ein anderer. ich blicke. und ich verändere mich. von augenblick zu augenblick. nichts bleibt gleich. alles ist in bewegung. innen, außen. und alles hat miteinander zu tun, alles ist auf eine größtenteils geheimnisvolle art und weise miteinander, untereinander verbunden. manches haben wir, manches habe ich erkundet, vieles, das meiste davon, weiß ich aber nicht. ich muss es nicht wissen. laotzu sagt, kehre zum ursprung zurück, ins unbewusste, das sei das mütterliche prinzip.
mein blick auf die welt erinnert mich an mich selbst. ich fürchte mich nicht, weder vor der welt, noch vor mir selbst. auch der tod ist mir vertraut geworden. ich empfinde mich wie auf einer langen reise und ich kann nicht sagen, wo sie begonnen hat und schon gar nicht kann ich sagen, wie sie enden wird, aber ich vertraue darauf, dass sie es gut mit mir meint.
mein blick auf die kinoleinwand ist mein blick auf mich selbst. es geht nicht um den film auf der leinwand, denn auf die kinoleinwand projizierte filme sind bestenfalls motive dafür, mich selbst zu erleben, meine eigenen (geistigen) filme zu drehen. natürlich kann ich mich auch „selbstvergessend“ in der welt verlieren und ganz darin aufgehen. das ist die andere seite des spiels, das ist in extremer ausformung das prinzip „hollywood“, die industrie, die uns unterhalten will, ich kann auch sagen, die uns nicht erwachsen werden lassen will, weil sie davon lebt, dass wir von ihr abhängig sind.
fraglich ist, wie ich die balance finde, zwischen mir und dieser welt. denn so wie ich lebe, so lebt diese welt auch. so wie ich lebe, lebt mein nachbar auch. wie finden wir ein gemeinsames auskommen?
insofern war und ist für mich die kinematografie immer schon eine art spiegeltechnik, die mir erlaubt, mich in der welt und die welt in mir zu erleben. am besten geht das mit menschen, sie sind mir am nächsten, nichts ist mir so verwandt, wie sie es sind. im angesicht einer person kann ich eine tiefe verbundenheit fühlen, die soweit gehen kann, dass sich in mir der gewöhnlich vorherrschende eindruck einer dualen welt auflöst und eine art gesamtgestalt erscheint. kaum etwas fremd, alles vertraut. in mir. trotz der unterschiede, die sich im äußerlichen festmachen lassen, gibt es diese einigkeit, ich bin mir mit dir einig, ich bin mit dir eins, im sinne von eins und eins ist drei. jede begegnung, ich und eine andere person, ich und die welt, erzeugt etwas ganz neues, ein drittes eben, ohne das eine und das andere zu übergehen, zu vergessen, zu verdrängen, zu zerstören. alles darf, alles kann sein.
die liebe. angst und liebe, das geht nicht. liebe und angst auch nicht. so wie es scheint, gehört angst zum leben, wie die butter aufs brot. der us-komiker jerry lewis soll gesagt haben, angst kann man nur durch kenntnis überwinden. seltsam mag das anmuten, wenn man sich kindhafter ängste und kindhafter liebe erinnert. in der kindheit hat man noch nicht das zeug, das werk-zeug, das man sich im laufe seines lebens aneignen kann, um sich von gewissen äußeren hilfen abzukoppeln, um davon unabhängig zu werden, um auf eigenen beinen zu stehen, selbständig und erwachsen, um ängsten mit kenntnissen zu begegnen. wirklich erwachsene zuneigung kennt keine angst, sie wendet sich dem nächsten zu (das ist), geht aus sich heraus, tritt ein in die welt (anderer), ganz selbstvergessend, doch ohne selbstverlust, und so entstehen tänze zwischen welten, wie sie beispielsweise sufis kultivierten.
noch ein wort zum hören. denn mit den jahren, jahrzehnten, entdecke ich mit staunen, dass ich zwar „augenscheinlich“ mittels meiner augen filme und mich optischer linsen und dahinter angeordneter techniken bediene, dass ich aber eigentlich mit meinen ohren, mittels mikrofon und tonaufnahmegeräten, kinematografische erzeugnisse generiere.
Peter sloterdijk schreibt, „für den der wirklich sieht, ist das auge ein ohr des lichts.“ das gehör verbindet mich direkt und viel tiefer und umfassender mit der welt, als es meine augen je tun könnten. nachweislich ist unser gehör bereits um das vierte lebensmonat nach der befruchtung des eis voll ausgebildet und das gehör ist auch jenes organ, welches nach dem physischen tod des körpers als letztes stirbt. die größten seher in der geschichte der menschheit waren blind. beethoven war blind. töne, geräusche, musik dringen viel tiefer in uns ein als die zahllosen dinge und deren oberflächenbeschaffenheit, die uns buchstäblich in die augen fallen. und doch: augen und ohren „reden“, ergänzen einander. yin und yang. frau und mann. shakti und shiva. energie und bewußtheit. dunkelheit und licht. schöpfung und zerstörung. chaos und ordnung. kalt und heiß. sonne und mond. lärm und stille. außen und innen. du und ich.
robert frank, noch so ein mir naher wahlverwandter, sagt in seinem film „home improvements“ (1985), als er zum fenster seines unweit des meeres stehenden hauses, in nova scotia, hinausschaut und gleichzeitig filmt, was er sieht, nämlich hohe und bedrohlich ans ufer schlagende wellen, „I'm looking out the window and what do I see? communication!“.
michael pilz, wien, am 20. april 2013