Die Entstehung des österreichischen Filmförderungsgesetzes im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz

Anna Katharina Wohlgenannt

Diplomarbeit zur Erlangung des Magistragrades der Philosophie an der Philologisch–Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Februar 2007, Zitat Seite 90–107

7. Himmel und Erde (1979–1982) von Michael Pilz

Am Fall Himmel und Erde, in welchem es um das Leben von sozial und wirtschaftlich marginalisierten Bergbauern in der Steiermark geht, lassen sich Differenzen zwischen den Interessen der Filmschaffenden, der Protagonisten und des Publikums, lassen sich die Grenzen des Konzepts Der Film als soziale Handlung darlegen.

In diesem dokumentarischen Essayfilm zeigt Michael Pilz Momentaufnahmen des Alltags der Menschen in dem kleinen Gebirgsdorf St. Anna, bei Obdach in der Steiermark. Er präsentiert sie in erster Linie bei ihrer Arbeit als Bauern (– einige von ihnen sind zusätzlich als Fabrikarbeiter tätig, um überleben zu können). Durch die unmittelbare Anschauung werden die Schwierigkeiten eines Lebens als Bergbauer offenkundig – diese ergeben sich weniger aus den harten Umwelt- und Wetterbedingungen, mit welche die Bauern längst zu leben gelernt haben – sondern eher aus gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.

Pilz fokussiert auf alltägliche Situationen wie Feldbestellung, Schweineschlachtung, etc. Mithilfe der Erzählungen der Bauern und ohne das Dorf jemals zu verlassen, gelingt es ihm, aufzuzeigen, dass ihre sozialen Probleme in größeren, ideologischen Zusammenhängen zu sehen sind. Die Menschen werden dabei in ihrer gesellschaftlichen Funktion gezeigt, während der private Bereich weitgehend ausgeklammert bleibt.

Beeinflusst wurde Pilz unter anderem von den zwei damals wichtigsten Philosophien des neuen Dokumentarfilms: Einerseits dem Direct Cinema oder Uncontrolled Cinema, welches in den USA unter anderem von Richard Leacock geschaffen worden war; andererseits dem Cinéma Vérité, bzw. Cinéma–direct [1], initiiert von dem Franzosen Jean Rouch. Ersteres charakterisiert sich durch die Beobachtung von Vorgängen, ohne in sie einzugreifen. Vermittels Letzterem wurde versucht, die gefilmten Leute durch die Konfrontation mit der Kamera zu Bewusstseinsänderungen zu veranlassen [2]. Des Weiteren griff Michael Pilz Prinzipien des Essay- und Experimentalfilms auf. Er schreckte also nicht vor einem Methodenpluralismus zurück und nützte das volle Instrumentarium des seit 1960 aufgekommenen, neuen Dokumentarfilms aus – was ihm ermöglichte, „in Opposition zur Realität und zum Realismus“ [3] auf mehreren Ebenen zu argumentieren.

7.1. Zur Entstehung von Himmel und Erde

Laut Michael Pilz gab es mehrere Anlässe, die in ihm das Interesse für den Themenkomplex ‚Bergbauern’ wachriefen: In den Aufzeichnungen, die er in der Vorbereitungsphase seines Films führte, schildert er, dass eine Fotoreportage über Südtiroler Bergbauern in einer Ausgabe des Stern im Frühjahr 1978 in ihm die Lust geweckt hatte, sich mit dem Thema filmisch auseinanderzusetzen. [4] 28 Jahre danach erzählte er, dass eine Gruppe von nordamerikanischen Indianern kennen gelernt hatte, die in Österreich unterwegs waren, um von ihrer politischen und rechtlichen Lage zu berichten. Diese Begegnung hatte in ihm den Wunsch geweckt, mit einem Filmteam in die USA zu fliegen und ein Jahr in einem Indianerdorf zu drehen. Er musste allerdings sehr bald einsehen, dass dies ein zu teures Unterfangen geworden wäre. Daher begann er sich auf die Suche nach „Indianern in Österreich“ zu machen. [5]

Durch Dipl. Ing. Alfred Kohlbacher, der im Bundeskanzleramt an einer Sonderaktion der Bundesregierung zur Stärkung entwicklungsschwacher ländlicher Räume im Berggebiet beteiligt war, bekam er Informationen über die Situation der Bergbauern. Außerdem nahm er Kontakt mit Bergbauern auf, die seit 1974 in der Österreichischen Bergbauernvereinigung und –bäuerinnenvereinigung organisiert waren.

Parallel dazu begann er, sich der Materie über eine intensive Lektüre anzunähern:
Er setzte sich mit den deutschen Bauernkriegen auseinander [unter anderem anhand von Friedrich Engels’ Der deutsche Bauernkrieg VI. Der thüringische, elsässische und östreichische Bauernkrieg, sowie des Werks Allgemeine Geschichte des deutschen Bauernkrieges, (1841–43) des deutschen protestantischen Theologen, Dichters und Historikers Wilhelm Zimmermann], mit Agrarpolitik [Karl Kautskys Die Agrarfrage (1899)], mit sozialen Missständen in Österreich [Marina Fischer–Kowalski: Armut in Österreich: Dritte Welt in der Ersten Welt, 1977; Josef Bucek: Ungleichheit in Österreich. Ein Sozialbericht, 1979] und der Sozialgeschichte der Bauern in Österreich [Karl Bochsbichler: Stand und Entwicklungsmöglichkeiten bergbäuerlicher Betriebe in Österreich (1976); Josef Buchinger: Der Bauer in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Österreichs (1952); Georg Grüll: Bauer, Herr und Landesknecht. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848 (1963), Herbert Schiff: Die Bergbauern (1977), Josef Stummer: Geschichte der Bauern (1976)].

Einen besonderen Fokus richtete Pilz auf Anthropologie, Ethnologie [Claude Levi–Strauss’ Strukturale Anthropologie, Oscar Lewis’ Die Kinder von Sanchez (1963) Paolo Freires Pädagogik der Unterdrückten (1970)], sowie Psychoanalyse und Sozialpsychologie [Sigmund Freuds Die Traumdeutung, (1900) und Jenseits des Lustprinzips (1920) Alfred Lorenzers Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis (1976) Erich Fromms Die Furcht vor der Freiheit (1941) Haben oder Sein (1976) George Devereux’ Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (1967)].

Des Weiteren widmete er sich formalen Fragen – Fragen der filmischen Gestaltung, der Umsetzung – was ihn zu dem Problem der Relation von Fiktion und Wirklichkeit im Film führte. In diesem Belang waren ihm unter anderem Texte des Philologen und Semiotikers Roman Jakobsons [Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, (1974)] dienlich und halfen ihm bei der Entwicklung eines Filmkonzepts.

Er verfasste ein Exposé mit dem Titel Glaubt wer, dass wir Bergbauern nur von der schönen Aussicht leben? und reichte es beim ORF ein – obwohl ihm die Arbeitsbedingungen während seiner beiden letzten Auftragsarbeiten für den ORF – Franz Grimus und Die Generalin (beide 1977) in der Reihe Menschen unter dem damaligen Kulturressortleiter Wolfgang Lorenz – skandalös erschienen waren: Lediglich vier Dreh- und vier Schnitttage waren ihm für die Portraitierung eines Waldviertler Bauern und der Mutter des Regisseurs Herbert Vesely zugesprochen worden – was Michael Pilz als blanken Zynismus empfunden hatte. Er hatte sich daher geschworen, dass er sich für seine nächsten Projekte kein solches Zeitdiktat mehr auferlegen lassen würde, sondern sich so viel Zeit für die Dreharbeiten und den Schnitt nehmen würde wie notwendig sei.

Dementsprechend konzipierte er seine Dokumentarfilmidee als einjähriges Projekt. Es sollte aus den vier Teilen Sommer, Herbst, Winter, Frühling bestehen, denn: „Bauern und insbesonders Bergbauern waren seit jeher Menschen, deren Lebensführung und Lebenseinstellung wesentlich von ihrer Umwelt der Natur, von den klimatischen Verhältnissen, den Jahreszeiten bestimmt wurden.“ [6] In jedem Teil sollte ein anderer inhaltlicher Schwerpunkt gesetzt werden: Im Sommer sei das Hauptaugenmerk auf die Bauernarbeit zu richten; im Herbst war geplant, sich auf die alten Überlieferungen, die Mythen und Riten der Bergbauern zu konzentrieren, sowie auf die Konsequenzen, die die Modernisierung für die Bergbauern hat. Im Winter wollte Pilz den Skitourismus und den Alltag der Bergbauern einander gegenüberstellen und im Frühling schließlich sollte der Aufbruch der Bergbauern in eine veränderte Zukunft gezeigt werden. Denn – worüber sich Michael Pilz sehr bald im Klaren war – er wollte sich nicht nur auf die prekäre Lage der Bauern konzentrieren und damit ein Portrait von Bergbauern erstellen, dass den üblichen (großstädtischen) Klischeevorstellungen entspricht. Den Film ‚positiv’ enden zu lassen, entsprach auch den Vorstellungen von Josef Krammer und Dr. Scheer vom Institut für Höhere Studien, sowie von Franz Rohrmoser vom österreichischen Bergbauernverband, mit denen Michael Pilz in dieser Phase des Projekts enger zusammenarbeitete. Diese stellten sich vor, dass der Film der inzwischen eingesetzt habenden Verbesserung der Situation der Bergbauern, unter anderem dank des Einsatzes des Bergbauernverbandes, Rechnung tragen sollte. 

Der ORF lehnte Pilz’ Konzept mit der Begründung ab, es sei bereits eine derartige Sendung geplant. Wenig später erfuhr Michael Pilz, dass das Thema schon seit mehreren Jahren von verschiedenen Leuten, unter anderem auch von Bernhard Frankfurter, vorgeschlagen worden war, der ORF aber nicht darauf reagiert hätte – und zwar möglicherweise aus Angst vor ÖVP und Bauernbund. [7]

Nach der Absage des ORF verfasste Michael Pilz im Mai 1978 ein umfangreicheres Exposé – Bergbauernleben – welches er dem Filmbeirat des BMfUK vorlegte. Parallel dazu unterbreitete er sein Projekt einer Reihe anderer Institutionen und Personen: Handelsminister Staribacher, der auch das Amt des Präsidenten der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung bekleidete, Landwirtschaftsminister Haiden und Landesrat Partl von der Tiroler Landesregierung.

Sowohl die Österreichische Fremdenverkehrswerbung, „die es nach langen, gemeinsamen Gesprächen im Sinne ihrer Ziele nicht sehr zielführend fände, an diesem Projekt sich zu beteiligen“ [8], als auch das Landwirtschaftsministerium waren nicht bereit, Budgetmittel für die Herstellung des Filmes bereit zu stellen. Dafür zeigte sich der Filmbeirat des Unterrichtsministeriums sehr interessiert: In mehreren Sitzungen im Herbst 1978 war das Konzept Gegenstand von Beratungen, im Jänner 1979 wurde es angenommen und im April 1979 wurde der Herstellungsauftrag erteilt. Fürs Erste bekam Michael Pilz die stattliche Summe von 1,6 Millionen Schillingen, was in heutige Maßstäbe umgerechnet ungefähr € 800.000 sind. Die ungewöhnliche Großzügigkeit begründete Pilz damit, dass er mit seinem vorigen, vom Beirat geförderten Projekt Langsamer Sommer (1976) von John Cook, welches er produziert hatte, relativ erfolgreich gewesen war – der Filmbeirat also schon Vertrauen in seine Arbeit hatte gewinnen können.

Im Sommer 1979 begab sich Michael Pilz auf Motivsuche: Er setzte sich in einen VW-Käfer und fuhr, in Vorarlberg beginnend, quer durch Österreich. Die Verbindung zur Bergbauern und -bäuerinnenvereinigung war ihm sehr dienlich, um Kontakte in den verschiedenen Dörfern herzustellen und Informationen über die spezifischen Probleme der einzelnen Regionen zu erhalten. Im November 1979 saß er aufgrund plötzlich einsetzender, heftiger Schneefälle im Steirischen Obdach fest, was er als Wink des Schicksals empfand und weshalb er beschloss, sein Projekt dort umzusetzen.

Als Anfang 1980 die Dreharbeiten begannen, hielt sich Pilz schon einige Monate in Obdach und Umgebung auf, hatte Menschen und Sitten daher bereits näher kennen gelernt. Zunächst wurde in einem Team von vier Personen, bestehend aus einem Kameramann, einem Kameraassistenten, einem Tonmeister und einer weiteren Assistentin, gearbeitet. Nach zwei Monaten entschied Pilz sich allerdings, das Projekt im Alleingang – nur mit Hilfe des Tontechnikers Georg Buigner – fortzusetzen. Dies hing mit seiner sehr offenen Arbeitsweise zusammen.

Ursprünglich war geplant, dass das Projekt in Kooperation mit der Produktionsfirma VPR–Film fertig gestellt werden sollte. Es kam jedoch zu Meinungsverschiedenheiten, die Pilz veranlassten, die Zusammenarbeit abzubrechen und sich seinen eigenen Schneidetisch zuzulegen, wo er nach und nach begann, sein Material anzulegen. Bis zum Sommer 1982 dauerten die Dreharbeiten, diverse Nachdrehs und der Schnitt, den Michael Pilz ebenfalls quasi im Alleingang – abgesehen von Tonfeinarbeiten, die er in einem Tonstudio machen ließ – besorgte.

Die Überlegung, dass der Film nicht einfach als Ware gehandelt werden sollte [9], veranlasste ihn, anstelle des geplanten 90–minütigen Films eine zweiteilige, insgesamt fünfstündige Version zu erstellen, wobei er den ersten Teil Die Ordnung der Dinge und den zweiten Teil Der Lauf der Dinge nannte. Zudem beschloss er, den auf 16 mm gedrehten Film auf 35 mm aufzublasen und somit kinotauglich zu machen – hierfür stellte er einen Antrag auf Nachförderung, der ihm in der Höhe von 400.000 S auch tatsächlich bewilligt wurde.

Am 23. September 1982 fand bei den 6. Österreichischen Filmtagen in Kapfenberg  die Erstaufführung statt. Zwischen 1982 und 1984 lief Himmel und Erde auf sieben internationalen Festivals [10], bekam zwei Preise, blieb jedoch der breiteren Öffentlichkeit in Österreich eher unbekannt. 1985 wurde er vom ORF im Spätabendprogramm gesendet – allerdings in drei Teilen. Michael Pilz hatte sich ausbedungen, den Schluss des ersten Teils und den Anfang des zweiten Teils der Kinoversion in der Mitte des zweiten Fernsehteils darzustellen, „sodass das Fernsehpublikum annähernd einen Begriff davon hat, wie der Film eigentlich aussehen sollte.“ [11] Die Zusammenarbeit zwischen Michael Pilz und dem österreichischen Fernsehen hatte sich also einmal mehr als problematisch erwiesen. In Ländern wie Holland, Frankreich fühlte sich Michael Pilz besser verstanden – dort fand er die Öffentlichkeit, die ihm in Österreich immer verwehrt geblieben ist.

7.2. Die „kleine“ Filmförderung im Bundesministerium für Unterricht und Kunst

Überhaupt erst ermöglicht wurde Himmel und Erde durch die „kleine“ Filmförderung, die im Oktober 1973 im Unterrichtsministerium eingerichtet worden war. Diese, als interimistische, provisorische Förderung bis zur Verabschiedung des Filmförderungsgesetzes von Fred Sinowatz konzipiert, bestand aus einer Filmjury, die dem Unterrichtsminister bei Entscheidungen über die Förderungswürdigkeit einzelner Projekte in beratender Funktion zur Seite stand. Bis 1978 übernahm Ministerialrat

Dr. Raimund Warhanek, der bereits seit 1955 Leiter der Abteilung Film im BMfUK war, den Vorsitz. In seiner Ära wurden vornehmlich Kulturfilme in deutscher UFA–Tradition subventioniert – was auf das Bestreben, diverse Produktionsfirmen am Leben zu erhalten, zurückzuführen war. Das gehäufte Auftreten einschlägiger Produktionsfirmen, geriet in der Praxis in die Nähe von Auftragsvergaben. [12] Warhanek sah nicht die künstlerische Komponente, sondern die volkswirtschaftliche Bedeutung von Film im Vordergrund. Zudem legte er ein Hauptaugenmerk auf staatsbürgerlich–erzieherische Inhalte – 1960 bezeichnete er den Kulturfilm als einen „wichtigen Aktivposten der österreichischen Kulturpropaganda.“ [13]. Die meisten Kulturfilme zeichneten sich daher durch eine antiquiert–pädagogische Machart aus: „Einer oft sehr unfilmischen Aneinanderreihung von Bildern wurde ein meist durchgehender pathetischer Kommentar samt musikalischer Untermalung hinzugefügt.“ [14] Was die Themen der zwischen 1945 und 1965 geförderten Filme betraf, so überwogen Theater, Musik, Religion, Sport, Natur, Tiere und Sujets, die sich für Fremdenverkehrswerbungen eigneten. Es war also ein durchwegs restaurativer Kulturbegriff vorherrschend, der geprägt war von einer  konservativen Überbewertung der Repräsentationskultur gegenüber der Alltagskultur.

Ende der 1970er Jahre vollzog sich durch Änderungen in der personellen Zusammensetzung (Warhanek quittierte sein Amt als Vorsitzender;  Filmkünstler und –theoretiker, wie Gottfried Schlemmer [15] brachten ein neues Verständnis für Film in das Gremium mit ein) eine Hinwendung des Filmbeirates zu innovativeren Projekten.

Nun konnten Filme wie Valie Exports Unsichtbare Gegner (1977) und Franz Novotnys Exit – Nur keine Panik (1980) u. a. entstehen. Des Weiteren steigerte sich auch das Interesse am Dokumentarfilm – wie die Förderungszusagen an Michael Pilz (Himmel und Erde) und an Bernhard Frankfurter (On the Road to Hollywood) verdeutlichen.

Josef Aichholzer hat den Filmbeirat als zentral bedeutsam für das österreichische Dokumentarfilmschaffen bezeichnet. Seine Analyse der Förderungspraxis im BMUK fällt allerdings wenig positiv aus – der Großteil der Filme sei „nicht wegen, sondern trotz der Filmförderung fertig gestellt“ [16] worden: Einreichverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen, willkürliche Kalkulationsreduktionen und ähnliches mehr hätte die Herstellung von vielen Projekten erschwert. Da der Beirat zudem über ein sehr beschränktes Budget verfügte, war er gezwungen, entweder eine Schwerpunktförderung zu betreiben, also nur einige wenige Vorhaben zu realisieren, oder nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen. Letzteres bedeutete in der Praxis, dass die Kalkulation eines Filmprojekts zu tief angesetzt wurde, als dass es in der konzipierten Form hätte umgesetzt werden können. Dies führte wiederholt zur Einreichung von Nachsubventionen – was, wie schon erwähnt, auch bei Himmel und Erde der Fall war.

Michael Pilz hat das Prozedere seines Förderungsgesuchs relativ unkompliziert dargestellt: „Die so genannte kleine Filmförderung ist ja damals erst im Unterrichtsministerium eingerichtet worden. Ich war gleich beim ersten Mal mit John   Cook und Langsamer Sommer dabei, weil ein guter Freund, Peter Kubelka, der Filmmuseumsdirektor, in der Kommission war und Gottfried Schlemmer [...]

und noch ein paar andere, die ich kannte, die mich kannten. Durch Langsamer Sommer hatte ich wirkliche Chancen auch ein eigenes Projekt finanziert zu kriegen [...] Ich habe dann eine ganz normale Kalkulation gemacht, welche wegen dieser langen Drehzeit 1,6 Millionen Schillinge betrug – obwohl der Film damals nur auf 90 Minuten kalkuliert war. Ich war sogar bei einem Hearing der Kommission und hab’ geschildert, was ich machen will und man hat mir das Geld gegeben. [...] Dieses Geld hat das Ganze überhaupt erst ermöglicht.“ [17]

Von Fritz Hermann sollte Michael Pilz im Nachhinein erfahren, dass sein Filmprojekt deswegen so großen Chancen hatte, weil es sich die Aufgabe gestellt hatte, sich der Situation der Bergbauern über ein rein künstlerisches Interesse hinausgehend zu widmen. [18]

7.3. Im Mittelpunkt: Die Bergbauern

In der Vorbereitungsphase zu Himmel und Erde hatte Michael Pilz noch vor, mit den Bergbauern längerfristig zu arbeiten – und zwar mithilfe von Sozialarbeitern und Psychotherapeuten. Aufmerksam hatte er die Arbeit des Bergbauernverbandes verfolgt, der sich für die Stärkung des politischen Bewusstseins der Bergbauern einsetzte: „Der Bergbauer muß seine eigene Lage ungeschminkt, ohne Vorurteile und Wunschvorstellungen, grundsätzlich sehen lernen. Nur unter diesen Voraussetzungen kann er sich darüber schlüssig werden, wie die Dinge zu ändern, wie sie zu einem Besseren zu wenden sind.“ [19] Diese Entwicklung hin zu einer Verbesserung der Lebenschancen der Bergbauern wollte Pilz unterstützen: Das Filmprojekt sollte den Bauern auch zur Selbstreflexion und zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins dienen, sie sollten sich im Verlauf der Arbeit als gleichwertige Gesprächspartner erleben können.

Das Bestreben, keinen Film über, sondern einen Film mit den Bergbauern zu drehen, hatte in ihm unter anderem die nähere Beschäftigung mit den Methoden des Schweizer Filmemachers Fredi M. Murer geweckt, der 1974 gleichermaßen einen Film über Bergbauern gedreht hatte: Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, daß wir da sind. Murer hatte in seinem Bergbauernfilm auf formalen Experimente weitgehend verzichtet und sich ganz in den Dienst dieser Bergler, ihres Daseins und ihrer Sorgen gestellt. Dies veranlasste einen Kritiker zu sagen: “Als Dokument unserer schweizerischen Gegenwart besitzt Murers Film großen kultur- und staatspolitischen Wert.” [20]

Pilz schien seinen Film zunächst auf ähnliche Weise umsetzen zu wollen – so schrieb er in seinem Exposé Bergbauernleben: „Geschichte und Geschichten, das tägliche Überleben, Probleme, Fragen, Widersprüchliches werden von den Betroffenen selbst, den Männern, Frauen und Kindern, aus ihrer eigenen Sicht zum Ausdruck gebracht werden. Im Mittelpunkt stehen sie, die Bergbauern; sie haben das Wort.“

7.4. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung

So viel Fachwissen über das Thema Bergbauern sich Michael Pilz im Vorfeld auch aneignete – und somit von vornherein wohl mit vielen Vorstellungen belastet sein musste – stellte er in dem Exposé Bergbauernleben dar, dass er möglichst vorurteilslos in die konkrete Filmarbeit gehen wollte: „Das vorliegende Filmprojekt versteht sich ganz bewusst als Teil einer reichen Tradition des dokumentarischen Filmemachens, die – wie ich meine – dadurch bestimmt und ausgezeichnet ist, dass sie sich der Umsicht und Sorgfalt ethnografischer Methoden, der konsequenten Handhabe direkter, filmischer Selbstdarstellung sowie der Möglichkeiten poetischer, filmischer Deutung (nicht aber einer solchen im Sinne einer vorgefassten Meinung) bedient. Der Filmautor, der sich dieser Methode bedient, arbeitet nicht nach einem fertigen, in sich abgeschlossenen Konzept (Drehbuch), sondern er setzt mit seiner Arbeit einen Prozess in Gange, dessen wesentliches Merkmal es ist, das, was gemacht werden soll, zu suchen, indem Konzept und Gestalt zusammenfallen, das Auszudrückende und der Ausdruck – Inhalt und Form – eins werden. Diese Art des Filmemachens verfährt analog der Wissenschaft. Wie jene will der Filmautor etwas herausfinden, was er vorher nicht kannte. Somit wird das Machen eines solchen Films zu einer Art Abenteuer, zu einer Forschungsreise ins Unbekannte. Der Filmautor will herausfinden, wie sich Menschen verhalten, wie sie denken, wie sie fühlen, was sie von sich herzeigen und was sie verbergen: Das will er filmisch darstellen.“ [21]

Im Zuge seiner ausgiebigen Lektüre hatte er festgestellt, dass unter den Bergbauern gewisse psychologische Phänomene wie z.B. das gleichzeitige Herr- und Knecht–Sein, Probleme hervorrufen. Sein Konzept war, Situationen, in denen dies auftritt zu finden und zu filmen. Bei seiner Filmarbeit ging er also nach einem bereits vorab verfassten Katalog von Motiven vor – was sich  jedoch nicht ohne Hindernisse umsetzen ließ: „Es war sehr schwierig bei den Bauern Situationen zu finden, wo zum Beispiel ihre Aggression zum Ausdruck kam. So etwas habe ich zum Beispiel gesucht. Oder ich habe Situationen gesucht, wo sie ihre Trauer zeigen. Auch Situationen, die zeigen, wie sie mit ihren Händen und Füssen arbeiten. Wie sie die Dinge angreifen. Schwierig war es auch, Situationen zu finden, wo sich, wenn ich das so sagen kann, ihr Seelenleben gezeigt hat.“ [22]

Durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung gelang es Michael Pilz, sich den Bergbauern anzunähern. Unter dieser, von ethnographischen Prinzipien beeinflussten und vom Direct Cinema bzw. Cinema Verité  aufgegriffenen Vorgehensweise ist laut Wilhelm Roth die Überwindung der Distanz zwischen den Filmemachern und den Menschen, die aufgenommen werden, zu verstehen, die direkte Teilnahme der Kamera- und Tonleuten an Ereignissen, Festen, Ritualen. Dazu gehört auch ein Feedback der Protagonisten über die Aufnahmen – wodurch ein Dialog zwischen den Filmschaffenden und den Gefilmten entsteht. [23]

Was diese Methode des Weiteren kennzeichnet, ist, dass sie nicht ohne eine Solidarisierung des Filmschaffenden mit den Menschen, die aufgenommen werden, erfolgen kann: Man kann also nur Menschen portraitieren, die man mag, Gegner hingegen lassen sich kaum darstellen. Dies hat Pilz bestätigt: „Ich hab mir nur die Leute vorgenommen, so wie ich sie mögen habe und so wie es gegangen ist.“

Über einen der Bauern, genannt Kratzer, erzählt er: „Ich habe gewusst, dass er ziemlich viel weiß, da sein Vater in den 30er Jahren Bürgermeister war. Und obwohl er sich sprachlich so schwer verständigen konnte, weil er seit der Kindheit, von Geburt an, einen Hörfehler hatte, war er sehr intelligent. Für mich war er ein Genie. Ein Künstler. Er war über diesen Hörfehler so bei sich, so wach. Er hatte so wache Sinne – und war so liebenswürdig, freundlich, und ist so gut mit den Dingen, den Tieren, der Natur umgegangen. Das hat man in seinem Haus gesehen – er hat alles machen können – mit der Hand. Den hab’ ich sehr gemocht, geliebt. Und gerade weil er sprachlich so einen Fehler hatte, gerade mit ihm, wollte ich das Gespräch machen.“ [24]

Unter den Bergbauern, die aufgrund der geographischen Abgeschiedenheit, des Mangels an Prestige, Zeit, Bildung und Selbstvertrauen, in jener Zeit politisch machtlos und kaum in politischen Entscheidungsgremien vertreten und daher in der Öffentlichkeit kaum präsent waren, wählte Pilz jene Menschen aus, die innerhalb dieser an und für sich schon marginalisierten Gesellschaftsschicht an den Rand gedrängt waren. In dieser Hinsicht ist Himmel und Erde ein überaus politischer Film.

7.5. „Die Arbeitsweise war sehr offen: Es war nichts klar.“

Wiederholt musste Michael Pilz feststellen, dass die gesellschaftliche Struktur, in der die Bergbauern lebten, eine extrem hermetische war. Dies erschwerte die Filmarbeit und veranlasste ihn – sich diesem, in sich geschlossenen System entgegensetzend – zu einer überaus offenen Arbeitsweise.

Da sich die Bergbauern, was ihre Gefühle betraf, als wenig mitteilungsbedürftig erwiesen, nützte Pilz andere Bilder und Geschichten, um etwas tiefer von den Leuten erzählen zu können. Dem Problem, wie Bauern, deren Produktion nicht unter die kapitalistische Produktionsweise fällt, auf ihre Kosten kommen, plante er sich vermittels einer Situation, in welcher sich ein Handel vollzieht, auseinanderzusetzen. Konkret hatte er vor, einen Bauern beim Verkauf eines Schweins zu filmen.

Dies umzusetzen, stellte sich jedoch als nicht so einfach heraus: „Für den Sauverkauf bin ich dem Kratzer monatelang hinterhergelaufen. Er und die anderen haben es mir nie gesagt, wenn sie eine Sau verkauft haben. An einem Samstag vor Mittag habe ich das Gefühl gehabt, es wäre gut, zum Kratzer hinaufzufahren. Und tatsächlich haben wir schon von weitem den Fleischhacker gesehen! Und wir haben nur sechs Minuten Film mitgehabt! Das ganze Material war schon ausgedreht, wir hätten aus Wien neues holen müssen. Und ich hab’ nicht gewusst, was nun passieren wird. Ich hab’ nicht gewusst, wie die Sau vom Stall ins Auto kommt, was da rundherum passiert – was die reden, ob sie in die Küche rauf gehen oder unten bleiben. Wo der dann hinfährt mit der Sau, was dann unten im Dorf passiert – keine Ahnung! Es ist dann aber irgendwie gegangen – und das Wesentliche war drauf.“ [25]

Michael Pilz war also gezwungen höchst spontan und improvisatorisch zu arbeiten – was ihm ohne gewisse Neuerungen im Bereich der Technik – die auch eine Voraussetzung für die Entwicklung der neuen dokumentarischen Methoden des Direct Cinema und des Cinema Verité bildeten – nicht möglich gewesen wäre. Dank der synchrone Bild-Ton-Aufnahme wurde die Orientierung der Kameraleute am sprechenden Menschen erlaubt. Davor mussten Geräusche und Stimmen oft nachträglich hinzusynchronisiert werden, wodurch eine ganze oder teilweise Inszenierung notwendig war. Des Weiteren gaben neue Kameras den Kameraleuten eine bisher nicht gekannte Beweglichkeit: „Ich hab am Anfang nie gewusst, was ich filmen werde. Und wie ich filmen werde... das war immer meine Art zu filmen. Das hat sich [...] aus dem Bauch heraus ergeben. Deswegen habe ich nach zwei Monaten die Kamera selber in die Hand genommen und das mit dem Georg gemeinsam selber gemacht. Das war sehr geil: Bilder wirklich machen und sehen, was in Szenen, wo die Bauern herumgeeilt sind und gearbeitet haben und wo du sie nicht unterbrechen konntest, passiert... das ist ja alles im totalen Durcheinander passiert.“ [26]

Im Zuge dieses äußerst freien Arbeitsprozesses und im Angesicht der überaus abgeschotteten Welt der Bergbauern in St. Anna war Michael Pilz das Ziel, die reine, objektive Realität darzustellen – also eine Filmästhetik, die durch die äußerste Nähe zum Objekt die Auflösung der Autorenposition anstrebt, zu unbefriedigend, wenig ergiebig – mit seinen Worten: zu „langweilig“ [27]. Er war bestrebt seinem Film über die Bergbauern eine persönliche Handschrift zu geben: „Ich hab’ mir gedacht: ‚Wenn ich den Film mache, will ich meinen Film machen! Es wird mein Blick sein, meine Perspektive, meine Erfahrung, auch meine Lebenszeit. Ich will von mir erzählen. Ich will am Beispiel der Gebirgsbauern in der Obdacher Gegend von mir erzählen oder ich will von mir erzählen durch die Wahrnehmung der Lebenssituation der Gebirgsbauern in Obdach.‘“ [28]

Damit folgte Michael Pilz jener „Ideologie der Selbstverwirklichung“, die vom europäischen Autorenfilm geprägt wurde und nach Thomas Elsaesser eine Legitimation für staatliche Förderung darstellt. In westlichen Demokratien sei es bei der Finanzierung von Filmprojekten vielfach nicht um den Gebrauchs- oder Propagandawert gegangen, sondern um den Ausdruck der eigenen Gedanken, um die Idee des Films als Kunst, die im Bereich ästhetischer Autonomie entsteht. [29]

7.6. Himmel und Erde: Ein Mischform zwischen ethnographischem und essayistischem Film

Fasst man unter dem Begriff ethnographischer Film Werke auf, die entlegene, hinter der zivilisatorischen Entwicklung zurückgebliebene Gebiete portraitieren [30], so ist Himmel und Erde einwandfrei dieser Kategorie hinzuzuzählen. Die Ethnographie hat den Dokumentarfilm von seinem Beginn an geprägt – so hatte Robert Flaherty mit Nanook of the North 1922 den ersten langen (noch teilweise inszenierten) Dokumentarfilm überhaupt geschaffen und hierfür ebenfalls ein ethnographisches Thema über die Inuit in der Arktis von Québec, in Kanada gewählt.

Pilz sah Himmel und Erde zwar als Teil dieser Tradition des dokumentarischen Filmschaffens – Flahertys Hang zum Exotismus wollte er jedoch im Zuge seiner Arbeit nicht aufkommen lassen. In seinem Exposé schreibt er, dass es ihm darum ging, das „Vorurteil von den Bauern als homogener Gruppe mit einem eindeutig ausgerichteten, meist mit ‚hoffnungslos konservativ’ bezeichneten Bewusstsein“ [31] filmisch zu hinterfragen, zu korrigieren und neu herzustellen. Pilz’ Ansinnen war, dem mystifizierten Bild des Bauern – nach Christa Blümlinger ein „im Gegenlicht fotografierter, mit der ‚Scholle’ verbundener Sämann“ [32] – welches in den österreichischen Kulturfilmen der 1950er wiederholt vorkam und an die heroisierende Ästhetik des Dritten Reichs erinnert, andere Bilder entgegenzusetzen. Darüber hinausgehend bezweckte er die Freilegung jener Wirklichkeit, die hinter den Bildern zu finden ist. Hierzu instrumentalisierte er die Fremdheit des Sujets und machte sie zu einem Mittel der Erkenntnis, der Überzeugung nachfolgend: „Das Auge des Fremden sieht Dinge, die das eigene auf Bekanntes gerichtet, niemals wahrnehmen könnte.“ [33]

Pilz, der selbst ebenfalls in einer bäuerlichen Umgebung aufgewachsen ist [34], hatte im Verlauf der Arbeit wiederholt das Gefühl, „nach Hause zu kommen“.  Die Arbeit mit den Bergbauern in der Steiermark ermöglichte ihm eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit – was ihm in seiner Heimat dem Waldviertel, aufgrund mangelnder Distanz nicht möglich gewesen wäre. [35]

Inwieweit die eigenen Gefühle des Filmemachers in seine Arbeit hinein spielen, lässt sich anhand des Beginns des ersten Teils darlegen. Pilz lässt den Film mit der Einblendung eines Spruchs von Laotse anfangen: „Nimm’ das was vor dir ist so wie es ist, wünsch es nicht anders, sei einfach da.“ Dazu ist das Krächzen, das Zwitschern von Vögeln und das Rauschen des Windes zu hören. Dann hört man die Stimme von Pilz aus dem Off, die folgende, selbst verfasste Zeilen einspricht: „Ich träumte, man hat mich gewürgt. Ich bin erschossen worden.“ Die ersten, zeitverzögerten Bilder einer Schweineschlachtung, aufgenommen im Gegenlicht, werden auf der Tonspur begleitet vom Läuten einer Kirchenglocke. Dann ertönen Klänge, die entfernt an den, in den Weiten eines Kirchengebäudes widerhallenden Gesang eines Kirchenchors erinnern.

Der Sinnspruch Laotses drückte einerseits Michael Pilz’ Arbeitsmethode, sein Motto, sein Credo aus. Andrerseits meinte er, in der taoistischen Philosophie die Seele der Bauern widergespiegelt zu sehen – was ihn dazu bewog, den ganzen Film über immer wieder Sinnsprüche, wie z.B. folgenden, einzusprechen: „Ein Land mag klein sein und seine Bewohner wenig. Geräte, die der Menschen Kraft vervielfältigen, lasse man nicht gebrauchen. Man lasse das Volk den Tod wichtig nehmen und nicht in die Ferne reisen. Ob auch Schiffe und Wagen vorhanden wären, sei niemand der darin fahre. Ob auch Panzer und Waffen da wären, sei niemand der sie entfalte. Man lasse das Volk wieder Stricke knoten und sie gebrauchen statt der Schrift. Mach süß seine Speise und schön seine Kleidung, friedlich seine Wohnung und fröhlich seine Sitten. Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, dass man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: und doch sollen die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin und hergereist zu sein.“ [36] Michael Pilz war der Ansicht: „[...] wenn diese Menschen in den Bergen eine Chance hätten oder gehabt hätten, anders aufzuwachsen, dann hätten einige von ihnen mitunter solche Texte gesprochen. Denn gelebt haben sie sie. Sehr deutlich für mich. Deswegen war es selbstverständlich, sich dieser Texte zu bedienen. [...] Das war eine gewisse Freiheit, die ich mir genommen habe gegenüber der Tradition des Dokumentarfilms. Ich habe mir gedacht: ‚Warum nicht über die Grenze gehen?’“ [37]

Pilz hielt sich also nicht strikt an sein Ausgangsmaterial, an das, was er unter den Bauern von St. Anna gefunden hatte, sondern verfremdete und kommentierte es nach seinem Ermessen – selbst auf die Gefahr hin, dann nicht mehr verstanden zu werden.

Als Himmel und Erde in der Volksschule von St. Anna, sowie im Kino von Obdach gezeigt wurde, löste dies in erster Linie Befremden aus. Aus den Reaktionen zu einer Vorführung in Obdach im November 1982 geht unisono hervor, dass der Film trotz seiner schönen Bilder als viel zu langatmig empfunden wurde – außerdem war man der Meinung: „Der Film hätte erklärt gehört, dann wäre Verständnis größer.“ [38]

Ein besonders schlechtes Urteil ging aus folgendem Schreiben an das Gemeindeamt St. Anna vom 8.11.1982 hervor: „[…] Ich bin bestürzt und empört, wie viele negative, abstoßende, scheußliche Bilder man von einer so schönen Gegend, wie es unsere Heimat ist, bringen kann. Herr Pilz hat lange danach gesucht. Er hat die dreckigsten Winkeln gefunden, selbst wenn er auf einen Wolkenbruch warten musste. Er hat die verfallendsten Bretter an den Häusln gesucht. Er hat die negativsten Äußerungen der Menschen in dem Film festgehalten. […] Ein Fremder, der den Film sieht, glaubt sich ins tiefste Mittelalter versetzt, würde selbstverständlich keine Regung verspüren, diese Gegend, diese Leute zu besuchen. […] Ich frage mich nur, wozu soll dieser Film dienen? Wozu wurde dieser Film mit 2 Millionen S […] gefördert? […] Jeder Hobbyfilmer könnte die schönsten Filme liefern, weil er die Leute und die Gegend und das Wetter von der schönsten Seite zeigen würde.“ [39] Die Schreiberin dieser Zeilen war offenbar in der Erwartung, einen Fremdenverkehrswerbefilm, bzw. einen traditionellen Kulturfilm zu sehen zu bekommen, ins Kino gegangen und zeigte sich überfordert von und daher verständnislos gegenüber Pilz’ teils ethnographischer, teils essayistischer Vorgehensweise. Vor allem letztere Methode – Wilhelm Roth zufolge aus der Erkenntnis entstanden, dass die Bilder alleine oft zu wenig sagen oder zweideutig sind – was daher einen Kommentar notwendig macht [40] – kann mitunter ein in filmästhetischen Fragen ungeschultes Publikum irritieren. Zumal sich essayistische Filme generell durch einen starken Eingriff des Filmemachers in das dokumentarische Material auszeichnen: Indem Pilz nämlich stellenweise Bild und Ton kontrapunktisch montierte, sein Ausgangsmaterial teilweise verfremdete, einige Szenen im Kopierwerk verlangsamen ließ, Experimente auf der Tonebene unternahm, sowie einige Einstellungen und Bilder immer wiederkehren ließ, unterwarf er die Aufnahmen einer persönlichen Vision. Durch eine quasi musikalische, poetische Strukturierung des Materials, schuf er Schwerpunkte und Verdichtungen. Durch die Auseinandersetzung mit den materiellen Eigenschaften des Mediums und seinen charakteristischen formalen Merkmale, die es zu einem Instrument der Realitätsaneignung machen, durch die nicht ausschließliche Abbildung der Welt, sondern auch der Strukturen des Films, reflektierte Pilz Film auf einer Metaebene. Auf diese Weise gelang es ihm, das hermetische Material der Gebirgsbauern in St. Anna formalistisch zu brechen, die Welt der Gebirgsbauern, die er als „geschlossenen Kosmos“ [41] erlebte, zu öffnen. Er hatte sein Ziel, Himmel und Erde zu einer „freien Dichtung“ [42] zu machen, erreicht.

7.7. Fazit

Anhand des Films Himmel und Erde wird deutlich, dass in den 1970er Jahren in Österreich allmählich Strukturen zu greifen anfingen, welche die Produktion von nicht in erster Linie profitorientierten Filmen ermöglichten. Dank des Engagements vieler Filmschaffender hatte sich ein Verständnis von Film als einer Kunst, die öffentliche Förderung verdient, durchgesetzt. Durch die 1973 eingerichtete, „kleine“ Filmförderung im Unterrichtsministerium wurde ein System entwickelt, in welchem einige wenige Filmemacher vor dem freien Markt geschützt, teilweise aus dem „Kreislauf des Kapitals“ [43] entlassen, ihre Projekte durchführen konnten.

In der Produktionssphäre hatte sich somit vieles zum Besseren gewandelt.

Allerdings verabsäumte man die Schaffung passender Verleih- und Vertriebsformen, und da diese, in einem autonomem Bereich abseits traditioneller Produktionsweisen entstandenen Filme sich den gewöhnlichen Vertriebsformen zumeist verweigerten, erreichten sie nur ein verschwindendes Publikum, das in erster Linie aus ohnehin schon eingeweihten „Experten“, also einer Elite, bestand. Damit wurde jenes, von den Syndikatsmitgliedern Dieter Wittich und Johannes Zell formulierte Ziel, nämlich Film als „Mittel und Mittler für ein humanes Zusammenleben für die Menschen“, als eine „Schule sozialen Verhaltens“ [44] zu nutzen, verhindert.

© Anna Katharina Wohlgenannt

Fußnoten

[1] Waugh, in: Nichols (1974), S. 235

[2] Vgl. Roth (1982), S. 9

[3] Roth (1982), S. 88

[4] Pilz: Bergbauern. Aufzeichnungen vom 22.01.–05.09.1979. Hier: 05.09.1979.

[5] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[6] Pilz: Glaubt wer, dass wir Bergbauern nur von der schönen Sonne leben? (1978), S. 8.

[7] Pilz: Bergbauern. Aufzeichnungen vom 22.01.–05.09.1979. hier: 05.09.1979.

[8] Michael Pilz an Dipl. Ing. Alfred Kohlbacher (04.10.1978)

[9] „Ich habe […] immer das Gefühl gehabt, während der Film am Schneidetisch entstanden ist – der Film braucht […] seine eigene Schachtel, Form und sein eigenes Gesicht, den kann man nicht einfach in das nächst beste „Billa“-Regal stellen. Der Film erzählt was anderes und erzählt das, was er erzählt, auch anders.“ Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[10] Nyon, Schweiz, Oktober 1982 (Prix de Jury Oecumenique), Aurillac, Frankreich, November 1982, Viennale, November 1982, Rotterdam, Februar 1983, Berlin, Februar 1983, Figueira da Foz, Portugal, September 1983 (Grand Prix für den besten Dokumentarfilm), Montréal, Kanada, November 1983, Paris, November 1983, Edinburgh, August 1984, Trieste, Italien, Dezember 1984

[11] Hübner (2000), S. 247

[12] Vgl. Aichholzer (1986), S. 64 Zum Beispiel stammten eine Vielzahl von österreichischen Kultur- und Dokumentarfilmen von Dr. Max Zehenthofer. (In einer stichprobenartigen Liste von 22 Filmen, in den Jahren 1945-65 gefördert worden waren, zeigte er sich für fünf Filme verantwortlich: Welttheater – Salzburg zur Festspielzeit; Drei kleine Bären (im Schloss Schönbrunn); Triumphfahrt unserer Pummerin (von St. Florian nach Wien); Wunder der Strahlen (Physik) und Auf geheimnisvollen Spuren (etruskische Grabstätten). Vgl. Warhanek (1965), S. 2

[13] Warhanek, in Filmkunst 31/1960, S. 9, zit. n. Blümlinger, in: Fabris/Luger (1988), S. 158

[14] Blümlinger, in: Aichholzer (1986), S. 9

[15] Gottfried Schlemmer studierte Theaterregie und war bis 1970 künstlerisch tätig. 1968–1984 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Österreichischen Filmmuseums. Seit 1971 ist er Lehrbeauftragter – unter anderem an der Akademie der Bildenden Künste. Des Weiteren hat er für Synema, einer Gesellschaft für Filmtheorie, die Geschäftsführung übernommen. Er veröffentlichte zahlreiche Werke zur Theorie und Geschichte des Films, sowie die Studien „Die autonome Film- und Videolandschaft in Österreich“ und „Die soziale Lage der österreichischen Filmemacher“ im Auftrag des BMfUK.

[16] Aichholzer, in: Ders. (1986), S. 73

[17] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[18] Pilz: Bergbauern. Aufzeichnungen vom 22.01.–10.09.1979. Hier: 14.02.1979 und 05.09.1979.

[19] Zeitschrift des Österreichischen Bergbauernverbandes Nr. 8/1, zit. n. Pilz: Bergbauern. Aufzeichnungen vom 22.01.–05.09.1979. Hier: 24.04.1979.

[20] Ulrich, Franz: Zoom 15/74, online im WWW unter: www.swissfilms.ch (11.12.2006)

[21] Pilz: Bergbauernleben (Mai 1978), S. 17.

[22] Hübner (2000), S. 249 f.

[23] Roth (1982), S. 181

[24] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[25] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[26] ebd.

[27] ebd.

[28] ebd.

[29] Elsaesser (1994), S. 76

[30] URoth (1982), S. 181

[31] Pilz: Bergbauernleben (Mai 1978) S. 11f.

[32] Blümlinger, in: Fabris/Luger (1988), S. 159

[33] Heike Behrend, in: epd. Kirche und Film Nr. 4/1982, S. 15, zit. n. Roth (1982), S. 181

[34] Michael Pilz wurde 1943 in Gmünd, NÖ geboren. Im Waldviertel verbrachte er seine Kindheit und den Großteil seiner Jugend. Nach der Matura 1962 begann er ein Studium an der Akademie der darstellenden Künste in Wien (Kamera und Regie), das er nach drei Semestern abbrach (1964/65). Es folgten Volontärstätigkeiten im Bereich Werbe-, Spiel- und Dokumentarfilme in Amsterdam und Athen. Ab 1967 lebte er wieder in Wien und arbeitete zunächst als freier Fotograf, Kameramann, Werbetexter, Regieassistent. Ab 1968 schuf er als Autor und Regisseur Dokumentarfilme, Kurzspielfilme, Experimentalfilme und Fernsehfilme (Reportagen, Dokumentationen, Features). 1971/72 erhielt er  den Filmförderungspreis der Stadt Wien. 1972 wurde er mit dem Kurzfilm Wladimir Nixon auf die Filmfestspiele von Venedig eingeladen. Ab1976 war er auch als Produzent tätig.

[35] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[36] Laotse: Tao te king. Das Buch vom Weg des Lebens. Aus dem Chinesischen übersetzt von Richard Wilhelm. (1978), S. 127 Die hier zitierte Übersetzung unterscheidet sich teilweise von jener, die Michel Pilz in Himmel und Erde verwendet hat!

[37] Hübner (2000), S. 250 f.

[38] Himmel und Erde. Vorführungen Kino Obdach, November 1982, Jänner 83, gesammelte Reaktionen von Frau Erika Metzger, Obdach

[39] Schreiben an das Gemeindeamt St. Anna, 8.11.1982

[40] Vgl. Roth (1982), S. 185

[41] Hübner (2000), S. 250 f.

[42] Interview mit Michael Pilz am 28.11.2006

[43] Elsaesser (1994), S. 82

[44] Wittich/Zell (1976), S. 6f.

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