die suche nach dem vorgestern – trauer und kreativität

Michael Pilz

Katalogtext für das Symposium der österreichischen Filmzeitschrift blimp „30 Jahre blimp“,
Graz, Forum Stadtpark, 13.-15. März 2015

diesen titel entlehne ich einem beitrag von thomas auchter in dem bei dumont in köln 1984 erschienen reader Psychoanalyse, Kunst und Kreativität, herausgegeben von hartmut kraft (ergänzt und neu herausgegeben in der wissenschaftlichen verlagsgesellschaft, berlin 2008, sehr zu empfehlen!).

ich bin in teheran, im teehaus der österreichischen residenz, es ist der 17. Juni 2014 und es ist etwa vier uhr morgens. eben begannen draußen die vögel zu zwitschern.

ich stelle mir eine blimp-nummer in nasdaligh (farsi, persisch) vor. ohne untertitel (es gab eine zeit, in der ich mit vorliebe japanische filme in originalsprache mit tschechischen untertiteln sah). das wäre vielleicht drin gewesen. damals.

die persische kalligraphie, insbesonders nasdaligh, ist wunderschön, bildhaft, sinnlich. ein bekannter photograph, mehrdad afsari, erklärte mir kürzlich den unterschied zwischen nasdaligh und kufi, der arabischen kalligraphie. diese beschrieb er mit hoch aufgerichtet, geordnet und ich dachte, militärisch. nasdaligh hingegen sei tänzerisch, in bewegung, wie musik, mit weichen und lang gezogenen schwüngen, aus einer uralten geschichte heraufreichend, viel älter auch als der islam, der sich der persischen kultur grausam, kriegerisch bemächtigt und alles was davon greifbar war, vernichtet hatte. außerhalb der kufi-ausgeschmückten moscheen blieb aber die alte schrift erhalten.

spricht man hier mit gebildeten menschen, so wird einem schnell gesagt, dass persisches mit arabischem nichts zu tun habe. auch wenn im süden, am golf, der arabische einfluss unübersehbar sei. zwischen den menschen, die an der strasse von hormus leben und jenen in teheran klafft eine breite kulturelle lücke.

mein freund khosrow sinai drehte vor etwa fünfzehn jahren den film bride of fire, in dem er diesen konflikt an einer anrührenden liebesgeschichte (mit tragischem ausgang: die braut verbrennt sich selbst) einfühlsam schilderte. jahre davor hatte er mir in wien, im cafe museum, von diesem projekt erzählt und davon, wie er mit künstlerischen mitteln einen brückenschlag versuchen wolle, zwischen einer archaischen, ländlichen und sich weitgehend an arabischen überlieferungen orientierenden kultur des südlichen irans und einer doch weltoffenen, modernen atmosphäre im nördlich gelegenen teheran (14 mio. einwohner im großraum der stadt). es war ihm das risiko bewusst. die mehrheit der bewohner des irans (etwa 80 mio.) lebt auf dem land und hält wenig von aufgeklärtem fortschritt. was angesichts des auch finanzmächtigen und jahrhundertelangen einflusses der religiösen obrigkeit verständlich ist. so wurde auch im vorfeld schon versucht, das projekt umzubringen. bride of fire wurde aber künstlerisch und wirtschaftlich ein großer erfolg, vielleicht gerade auch deshalb, weil dieser film schmerzliche erfahrungen und wunden vieler menschen im iran anrührte, die nicht zuletzt angesichts der vielfalt an völkern und kulturen zu ahnen scheinen, wie lange es noch dauern wird, bis diese wunden heilen. auch sinai weiß, dass zwar ein film nicht die welt verändert, dass es aber künstlerisch–kreativer, persönlicher und gewissermassen auch mut machender äußerungen, statements, bedarf, um menschenverachtenden haltungen nicht nur einen spiegel vorzuhalten, sondern vor allem auch um für die eigenen wünsche, sehnsüchte und utopien gebührend platz zu schaffen. doch, was hat all das mit blimp zu tun?

blimp in den 1980er-Jahren (die zeit sie rast im sauseschritt, wir mit) war geistige medizin, haptischer genuss, stets mit lustvollen überraschungen gespickt. irgendwann während der jahre seines bestehens gab ich bogdan mehrere hefte der filmculture, die ich mir ende der sechziger mühsam aus nyc beschafft hatte (jonas mekas), damals musterbeispiele sinnstiftenden designs.

jedesmal, wenn die post blimp anlieferte, war mein tag gerettet. dieses gefühl kannte ich nur an hand der filmkritik aus den sechziger- und frühen siebzigerjahren.

blimp war eine zeit lang einzigartig und hielt, in jeder hinsicht, ein niveau, an das andere, sich mit film beschäftigende drucksachen, nicht einmal annähernd herankamen.

umso weniger verständnis hatten die herausgeber und eine eingeschworene leserschaft für den schrittweisen rückzug des bundes, des hauptmäzens, was irgendwann dann zum glücklosen ende von blimp führte.

ich erinnere ein treffen mit bogdan und einem vertreter des für kultur zuständigen ministeriums im cafe zentral in der wiener herrengasse, in dunkler und dem lokal entsprechend versteinerter atmosphäre, bei dem das nicht mehr zu diskutierende aus am tisch lag. reinhard pyrker (österreichische filmtage wels), denke ich, war auch dabei. schweigend gingen wir auseinander, wie geschlagene hunde, wie damals auch, vorm tief-winterlichen friedhof, nachdem wir schmidt ernstl jun. begraben hatten.

doch: es waren pure lust am machen und tiefe überzeugung, mit blimp ein intelligentes, zeitgemäßes, immer wieder auch dem politisch–kulturellen underground und subversiven utopien verpflichtetes, mit jedem erscheinen alle sinne — und viele weitere vermutlich — gleichzeitig erregendes ding zu machen, das nicht nur vordergründig und oberflächlich, sondern nachhaltig, weil tiefer gehend, vielfach verschüttete bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu wecken verstand. dieses sich auf vielfältige weise und ohne scheu in äußere wie innere welten erstreckende und sie nicht nur darstellende, sondern geradezu erschaffende tun, packte viele, in diesen turbulenten und kulturpolitisch vom aufwind getragenen jahren, als veränderungen in der luft lagen. nicht zuletzt waren ein gutteil jener personen, die blimp herausgaben, auch die initiatoren einer zu gründenden grazer filmwerkstatt, die nie stattfand, weil sich die politische obrigkeit nicht mit nonkonformen kunst- und kultur-rabauken umgeben und diese schon gar nicht finanzieren wollte.

ich gebe gerne zu, dass mich die frühen ausgaben von blimp weit mehr interessierten als die späteren, die letzten, die inhaltlich (und formal) einen schwenk versuchten, den ich und wohl auch eine mehrzahl der abonnierten leserschaft so nicht mitvollziehen wollten. promt stellte sich die frage nach den gründen des verkaufsrückgangs und es kam leider, in meinen augen, zu mehr oder minder nicht sehr geglückten inhaltlichen, stilistischen und kaufmännischen reformversuchen. dem hauptmäzen, dem bund, mangelte es schließlich an einsicht, verständnis, willen und toleranz für dieses in seiner grundhaltung nach wichtige kulturelle, künstlerische, publizistische unternehmen, das im interesse aller wirksam war, auch wenn nicht immer alle es begriffen und also konsumierten, heißt: dafür — ausreichend — bezahlten. ihm, dem bund, war nicht klar genug verständlich zu machen, dass es künstlerische – und damit auch verlegerische – projekte gibt, geben muss, die etwas riskieren, versuchen müssen, die grenzen erfahrbar machen und ausloten, die wie in einem labor dinge tun und mixen, deren ende, ausgang nicht vorhersehbar, nicht kalkulierbar, nicht versicherbar ist. der pjysiker anton zeilinger sagte einmal, er und seine kollegInnen stünden wie fährmänner am bug ihrer schiffe, die in nebel, quasi in nichts hinaus steuerten und den leuten, den steuerzahlern, also der allgemeinheit, ist es das wert!

nun, die kürzung der förderung band den herausgebern schließlich die hände, denn ohne ausreichende basisfinanzierung war ein inhaltlich–formaler relaunch nicht möglich. eigenmittel standen keine zur verfügung. so war bald die ausgabe ... (welche war es eigentlich?) ... das letzte heft von blimp.

ich lese. in teheran. vom umgang mit dem sterben. trauerarbeit. abfolge von vier phasen. schock, kontrolle, regression, adaption. die erste zeit des trauerns ist durch ein schmerzliches verstimmtsein, eine aufhebung des interesses für die aussenwelt, einen verlust der liebesfähigkeit und eine hemmung jeder leistung gekennzeichnet.

im allgemeinen dient das (reale) objekt dazu, die verzerrungen des subjekts im bezug auf die selbst- und objektwelt immer wieder einer überprüfung zugänglich zu machen. durch den wegfall des objekts wird die bislang dadurch geordnete und integrierte innere welt in frage gestell; das innere gleichgewicht wird gestört, weil keine abgrenzung vom objekt und damit kein unterscheiden von phantasie und realität mehr möglich ist.

der infragestellung begegnet das ich zu beginn der trauerarbeit vorwiegend mit narzistischen bewältigungsmechanismen, die primär dazu dienen, den zusammenhalt des selbst einigermassen aufrecht zu erhalten. mit einem abbau der realitätskontrolle ist die verleugnung und verdrängung des verlusts verbunden. im suchen nach dem verlorenen objekt wiederholt sich das suchen nach der abwesenden mutter. beim mechanismus der manie, der eine fusion von ich und über–ich umfasst, wiederholt sich die phantasierte verschmelzung (verschmolzenheit) mit dem frühen objekt, verbunden mit einem gefühl des triumphes.

dem rückzug auf sich selbst folgt dann ein allmähliches wieder–aus–sich–heraus–gehen, zunächst mit dem überwiegen aggressiver bewältigungsmechanismen: protest und klage, suche nach dem schuldigen, identifikation mit dem aggressor. schließlich kommt es zu einer erneuten annäherung des ichs an die soziale umwelt mit dem einsatz objekt–libidinöser bewältigungsmechanismen. das beginnt mit der hilflosigkeit, die schuldgefühle und appelle an die umgebung umfaßt.

das erinnern bedeutet, sich der vergangenheit als eines nicht mehr vorhandenen bewusst zu werden. bei der inkorporation wird das verlorene objekt als ganzes verinnerlicht, womit — vergleichbar der über–ich–bildung — ein stück ablösung verbunden ist.

als letzter mechanismus tritt die substitution auf, wobei der ersatz durch einen anderen menschen, durch eine sorgende tätigkeit für einen anderen, eine neue aktivität oder durch eine orale ersatzbefriedigung erfolgen kann. es gibt hinweise darauf, dass nach gelungener ablösung der libido vom verstorbenen beim trauernden oft ein gesteigertes sexuelles begehren festzustellen ist. dieses kommt auch in sublimierter form zum ausdruck durch erhöhte unternehmungslust, erweiterung des geistigen interessenskreises usw.

und das war's dann schon wieder.

Michael Pilz, im Juni 2014

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