Robert Buchta
Eigentlich wollte ich immer, dass die Menschen nicht mehr auskönnen und somit keine Entschuldigung dafür haben, dass sie selbst betroffen sind.
RB: Wie würdest du den selbstreflexiven Aspekt in deinen Arbeiten bewerten, der ja für meinen Forschungsansatz so relevant ist.
Pilz: Dieser persönliche oder, wie du sagst, dieser selbstreflexive Moment hat mich eigentlich schon vor meinem zwanzigsten Lebensjahr zu interessieren begonnen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nicht explizit mit Film gearbeitet, sondern sehr viel gelesen und vor allem Jazz-Musik gehört. Die Pop-Musik ist eher ein bisschen an mir vorbeigegangen, sie hat mich nicht so sehr interessiert. Zen war jedoch schon damals sehr wichtig für mich wie auch gewisse psychoanalytische Bücher oder Texte von Beckett und Camus. Mit „Himmel und Erde“ wurde mir dann sehr bewusst, dass ich das Werk und das Biographische als ein Gemeinsames ansehe und dass vor allem in Bezug auf die Vermittlung das Werk allein nur zum Teil genügt, nur zum Teil genügen kann, nämlich dann, wo andere Personen davon angerührt werden. Das Konzept von „Himmel und Erde“ hatte ich auch schon in diese Richtung verfasst. Es beinhaltete, dass es mir einerseits um die Welt da oben in den Bergen und um die Menschen geht, wie sie dort zurechtkommen, und auf der anderen Seite auch darum gehen muss, meine Perspektive darauf als eben meine Perspektive kenntlich zu machen. Ich habe auch bald bemerkt, dass ich ein Stadtintellektueller bin, der von der Welt dort oben nichts versteht. Ich müsste siebenhundert Jahre dort leben, um diese Welt auch nur annähernd zu verstehen. Es genügt nicht, wenn man in das „Feinstoffliche“ hineingeht, weil dies auch noch nicht genügt, um zu begreifen. Also bin ich immer in Distanz und immer außen vor. Dabei habe ich zum Beispiel in den Gesprächen mit den Leuten in Obdach gemerkt, wie wichtig es ist, die Arbeit und das Biographische zu verbinden und dieses nach außen hin merkbar zu machen. Die Bewohner haben es sehr geschätzt, dass ich sehr viel von mir selbst erzählt habe, bevor sie dann langsam die schon latent vorhandene Lust, sich zu äußern, realisieren konnten. Um ein tieferes eigenes Verständnis zu finden, ist es hilfreich, über die andere Biographie die eigene Biographie zu begreifen.
RB: Kannst du kurz die psychoanalytischen Texte nennen, mit denen du dich auseinandergesetzt hast.
Pilz: Hier sind natürlich gewisse Aufsätze von Freud zu nennen wie etwa „Das Unbehagen in der Kultur“ und Arbeiten von Wilhelm Reich. Besonders hat mich der Konfliktbereich zwischen dem Wünschen und dem Scheitern interessiert, darin liegt auch mein Interesse an Beckett begründet, das bessere Scheitern quasi. Das Absurde bei Camus ist einer jener Punkte, die mich an ihm besonders faszinierten, dass es praktisch unsere Aufgabe ist, trotzdem glücklich zu werden.
RB: Um konkret auf deine Filme sprechen zu kommen: Bei „Himmel und Erde“ präsentiert sich der erste Teil als strukturiertes Ganzes, wohingegen der zweite Teil durch eine, wenn man so möchte, poetische Offenheit gekennzeichnet ist. Mich würde interessieren, ob diese Zweiteilung schon im Konzept angelegt war oder sich erst im Laufe des Arbeitsprozesses herauskristallisierte.
Pilz: Geplant war es nicht, ich wusste nur, dass ich diese Art von sogenannten Dokumentarfilmen, die ich kannte, nicht repetieren wollte. Natürlich interessierten mich die offeneren Formen von Robert Frank, der, als ich jünger war, ein großes Vorbild war. Hier sind aber auch Jonas Mekas oder andere zu nennen, die versucht haben, sehr persönlich auf die Welt zu blicken und nicht so sehr interessiert waren, diese zu objektivieren. Aber eine Kultur wie die unsrige, habe ich behauptet und behaupte ich noch immer, die so stark autoritär bestellt ist, neigt leider mehr zur sogenannten Objektivierung und lässt zwangsläufig das Persönliche oder das Private im Geheimen. Es war somit eher eine unbewusste als bewusste Absicht das Material von „Himmel und Erde“ auf verschiedenste Art und Weise auszureizen. Mir war jedoch klar, dass ich den Film mache, um gerade die harte Realität des Lebens in den Bergen zu zeigen. Dieser wollte ich mit der filmischen Sprache bis auf wenige Ausnahmen, wie sie etwa die Schlachtung des Schweins darstellt, die eine andere filmische Sprache spricht, entsprechen. Die hier andersartige Sprache ist auf eine persönliche Geschichte zurückzuführen, die auf sehr schmerzliche frühkindliche Erfahrungen zurückgeht, daher wollte ich diese Szenen aus der Höhe des Kopfes des Schweines gefilmt haben, um so die Identifikation mit dem Tier zu ermöglichen. Im zweiten Teil des Films habe ich dann sozusagen die Zügel losgelassen und einfach begonnen, die Sachen aufzufächern. Aus verschiedenen Gründen, wofür auch „Franz Grimus“ (A 1977), eine Arbeit für den ORF (Österreichischer Rundfunk-Fernsehen), entscheidend war, wollte ich „Himmel und Erde“ auf eine Ebene heben, bei der dem Publikum deutlich wird, dass es um die eigene Perspektive auf etwas geht. Und dieses Etwas ist nicht auf eine einfache Art zu beschreiben, sondern bedarf verschiedenster Zugangsweisen. Man kann also etwa sagen in betrunkenem Zustand, in nüchternem Zustand, im Winter, im Sommer, bei Hitze, bei Kälte, wenn es einem gut oder schlecht geht. Ich habe immer zu jenen gesagt, die einen Film planten und von mir wissen wollten, wie sie herangehen sollen, dass sie sich das Material in allen möglichen Verfassungen anschauen sollen, bis einem vor Augen steht, was es enthält. Man sollte nicht so herangehen, dass man schon im Vorhinein glaubt zu wissen, wie es sein muss oder zu sein hat. So etwas erlebte mein verstorbener Freund Karl Prantl am eigenen Leib. Als junger Bildhauer hat er einen Stein bearbeitet und erst zu spät bemerkt, was er getan hatte. Die weggeschlagenen Teile hätten eigentlich nicht abgeschlagen werden sollen. Er hat sich einem vorschnellen Entschluss hingegeben. Seit diesem Erlebnis hat er es sich zu eigen gemacht, solange zu warten und seine Steine so lange zu besuchen, bis die Sache von selber spricht.
RB: Die Schlachtung des Schweins hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben und kostete mich auch einiges an Überwindung bei der Betrachtung.
Pilz: Wenn man so will, war dies eine Absicht, die wiederum auf einer anderen Ebene interpretiert, was Arno Gruen, ein in der Schweiz lebender Psychoanalytiker, von seinen eigenen Erfahrungen ausgehend sagt. Jener Kreislauf, der sich zum Leidwesen vieler von Generation zu Generation weiterträgt, nämlich die Verdrängung der eigenen leidvollen Erfahrungen und die damit verbundenen eigenen leidverursachenden Handlungsweisen kann nur durchbrochen werden, wenn man sich das eigene Leid vergegenwärtigt, sofern dies irgendwie möglich ist, und dann nicht mehr gezwungen ist, dieses aus dem Unbewussten zu repetieren und an andere weiterzugeben.
RB: Ich möchte nun eine andere Thematik ansprechen und dich nach deinem Verhältnis zur Musik im Film befragen.
Pilz: Ich war früher ein „sturer Hund“ und habe nur Musik zugelassen, wenn sie reale Musik war. Ähnlich stur wie Bresson oder andere auch. Weil ich es illegitim bezüglich der filmischen Sprache fand, das filmische Bild nachträglich zu vertonen. Deswegen war mein Faible für sogenannte Spielfilme immer ein begrenztes. Daher habe ich auch irgendwann einmal gesagt, dass ein Spielfilm für mich nichts anderes als ein Dokumentarfilm ist, der Schauspieler bei der Arbeit zeigt. Bei meinem Film „Windows Dogs and Horses“ (2005) dürfte es das erste Mal gewesen sein, dass ich ganz bewusst Meditationsmusik von Osho eingesetzt habe und mir gedacht habe, so krass gesagt, „ich scheiß drauf“ mich so streng an die Regeln halten zu müssen, ich will sozusagen auch einmal leben und einfach das machen, wozu ich Lust habe. Dem ging etwas ganz Bestimmtes voraus, eine persönliche Erfahrung in einem tantrischen Seminar, mit dem ich damals begonnen hatte. Aus diesem stammt auch die im Film verwendete Musik. Es war mir damals ganz klar, dass es einfach so sein muss.
Bei „A Prima Vista“, weil du diesen Film in deiner Arbeit zitierst, bin ich in meiner Wohnung gesessen, alte Materialien sichtend, die alle seit teilweise gut fünfzig und die Mehrheit seit fünfundzwanzig bis dreißig Jahren in Schachteln verwahrt waren. Diese habe ich auf dem Steenbeck-16-mm-Schneidetisch durchgesehen, teilweise abgefilmt und schließlich eine Auswahl getroffen, die ich nach München transportierte, um sie dort MAZ-en zu lassen. Da ich das Filmmaterial genauso haben wollte, wie es ist, mit all dem Schmutz, habe ich darum gebeten, das Material nicht zu säubern. In Wien wurde es dann in den Computer eingelesen und geschnitten. Eine sehr schnell durchgeführte Arbeit, die in ungefähr zwei bis drei Wochen abgeschlossen war. Den ganzen Sommer lang hörte ich während des Sichtens und Schneidens Musik, die ich beim Yoga und bei anderen Fitnesskursen kennengelernt hatte, und es ergaben sich schließlich einige Vorlieben. Als ich dann vor der Frage stand, wie ich das stumme Material vertonen könnte, entschied ich mich dafür, einfach jene Musik zu verwenden, die mir persönlich gefällt. Ich setzte aber schon gewisse Pausen ein, um zu zeigen, dass die Musik den Sound nicht einfach zuschmiert.
Das Material für „A Prima Vista“ hat sich irgendwie selbst organisiert, wie auch die Musik, die ich hier verwendet habe. Irgendwann war der Film fertig, und ich war eigentlich überrascht, dass er schon fertig ist, dass da überhaupt etwas fertig ist oder dass da überhaupt etwas ist. Es war, denke ich, auch der Anfang, wo ich begonnen habe, noch intensiver mit Zeitlupen und erstmals mit Schwarzpausen zu arbeiten. Die Zeitlupen sind hier aber noch in den Filmkameras selbst gemacht worden. Einerseits mit einer Bolex und andererseits gegen Ende, wenn das japanische Fest zu sehen ist, mit einer Beaulieu-Kamera in der 8-mm Sequenz. Wobei ich seltsamerweise nie realisiert habe, wann ich dieses Fest gedreht habe, und ebenso konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, dass ich es damals in Zeitlupe gedreht hatte.
Davor habe ich einen Film gemacht, der „Silence“ (2007) heißt, eigentlich meine privateste Arbeit. Diese Arbeit hat den Ausschlag dafür gegeben, dass ich das Material für „A Prima Vista“ in die Hand genommen habe. Zu dieser Zeit hatte ich, eineinhalb bis zwei Jahre lang, eine Liebschaft mit einer sehr jungen Frau aus Graz. Auf gemeinsamen Reisen oder in Graz habe ich unser Zusammensein gefilmt und daraus einen Film gemacht. Bei diesem Film habe ich auch die Musik verwendet, die ich zu dieser Zeit gerade hörte. Seit damals gehe ich ziemlich ungeniert mit Musik um, wie in meinem letzten Film „Roman Diary“ (2011), der im Verhältnis zu früheren Arbeiten einen sehr extremen Soundtrack hat. Bei diesem verlangsame ich manchmal die Musik derart, dass sie gar nicht mehr als Musik erfahrbar ist. Genauso verlangsame ich die realen Geräusche und bediene mich eines sehr artifiziellen Soundtracks. Für mich sind dies alles Zeichen der Öffnung und auf der anderen Seite auch dafür, dass ich weniger Furcht davor habe, nicht zu genügen. Manchmal haben mich auch Personen gefragt, wieso ich den Ton gerade so verändere. Aber selbst meinem Freund Peter Schreiner gefällt dieser Film, gerade wegen des Tons. Er beginnt sich nun auch selbst, konkret bei seinem zuletzt fertig gestellten Film, zu lockern. Nun hat auch er begonnen, freier mit den Tönen zu operieren, nicht nur orthodox den realen naturalistischen Ton zu verwenden, sondern sich durchaus auch etwas aus dem Internet zu besorgen.
Diese orthodoxe, strenge Einstellung von früher hat aber etwas für sich, weil man geschult wird, und ich wurde durch die Arbeit an Himmel und Erde sehr geschult, vor allem bezüglich des Hinschauens und Hinhorchens auf das Material. Man muss auf die Realität vor der Kamera, aber und vor allem auf die Realität des Materials achten. Beim Schneiden ist es das allerwichtigste, dass du nicht von deinen Vorstellungen, sondern vom Material ausgehst. Daher ist natürlich von Anfang an eine strenge Vorgehensweise gefragt. Klaus Wildenhahn hat immer gesagt, wenn jemand wirklich Filme machen möchte, dann muss er mit dem sogenannten Dokumentarfilm beginnen. Ihn muss man beherrschen, man muss wissen, wie schaut man, wie filmt man: Was hat man für ein Material und wie gehe ich mit dem Material um, wenn es am Schneidetisch liegt. Entscheidend ist, wie gehe ich mit den Konflikten zwischen dem Material und mir um. Für mich selbst konnte ich dies bei der Arbeit an „Himmel und Erde“ durchexerzieren, da ich ihn zwei Jahre lang allein geschnitten habe. Dies ist sicherlich auch, wenn man so möchte, eine strenge, aber auch sinnvolle Klausurarbeit gewesen, weil mir danach klar war, was es bedeutet, wenn man einen Film macht. Mit dem erworbenen Wissen und der gewonnenen Erfahrung konnte ich es mir dann erlauben, gewisse Regeln umzustoßen, freier zu werden in der Benützung der Materialien.
RB: Was mir bei „A Prima Vista“ (2008) und hier vor allem bei deinen Experimenten mit der Bolex- Kamera aufgefallen ist, ist dieser sehr fotografische Zug. Die Bilder wirken teilweise gar nicht wie filmische Aufnahmen.
Pilz: Sicherlich auch dadurch bedingt, dass sie relativ kurz sind, es gibt ja kaum längere Einstellungen. Zu dieser Zeit, 1995 oder 1996, hatte ich diese Bolex gerade zwei Jahre vorher gekauft, im Zuge der Seminararbeiten, die ich drei Jahre lang an der Fachhochschule in Dortmund geleitet habe. Die Portraits am Schluss von „A Prima Vista“ als mein Teil dieser gemeinsamen Arbeiten stammen eben aus der Arbeit an diesen Projekten. Das Interessante an diesen Blockseminaren war, dass alle Teilnehmer wie etwa Gabriele Hochleitner, die ich als Filmemacherin sehr schätze, von der Fotografie kamen. Die Hochschule in Dortmund ist – neben der Folkwang-Schule – die wichtigste fotografische Ausbildungsstätte in Deutschland. Die Studenten haben das Fotografieren von der „Pike“ auf gelernt, vom Material, von den Geräten, von der Technik und von der Substanz her. Sie sind nicht von den Vorstellungen ausgegangen. Sie haben auch nie gelernt ein Drehbuch zu schreiben. So ein „Blödsinn“, und ich sage hier ganz absichtlich so ein „Blödsinn“, es kann zwar auch etwas Gutes haben, aber für mich eben auf einer anderen Ebene. Und sie haben natürlich auch mit der Bolex gearbeitet, um ihre Projekte zu verwirklichen.
Dieser Kurs hat mich dazu veranlasst eine eigene Bolex zu kaufen, weil ich ausprobieren wollte, wie ich mit diesem Instrument auf spontane Weise umgehen kann, indem ich es einfach behandle. Bei dieser Vorgehensweise kann man nicht mehr nachdenken, vorausdenken oder planen, man kann nur mehr arbeiten. Genau dies wollte ich ausprobieren. Eins zu eins, ohne Schnitt, ohne Nachbearbeitung, sollten die Bilder entstehen. Dies ist für mich dann schon ein wichtiger Moment, den ich aus meiner dokumentarischen Erfahrung oder, anders gesagt, aus meiner Erfahrung mit einer sogenannten dokumentarischen Arbeitsweise behalten habe, dass mir das originale Ding wichtig ist. Ob es dann verwackelt oder unscharf ist, das ist gar nicht entscheidend. Ich war immer ein Gegner von hochlackierten Sachen.
RB: Das Verhältnis von Fotografie und Film ist für mich aus ganz persönlichen Gründen sehr relevant, da ich an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt eine fotografische Ausbildung abgeschlossen habe. Diese bestimmt daher zum Teil meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Film.
Pilz: Ich habe als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger zu fotografieren begonnen, als mir meine Eltern einen kleinen Fotoapparat geschenkt haben. Seitdem habe ich eine Unmenge an Fotoapparaten verbraucht und leider alle wieder hergeschenkt, verkauft oder kaputt gemacht. Manchmal versuche ich noch zu eruieren, welche dies waren. Ich habe eigentlich immer sehr gern fotografiert, da ich ein Voyeur, ein Augenmensch bin, dann wurde ich auch zu einem Ohrenmensch und heute ist es mehr das Ohr, das mich schauen lässt.
Nach ein paar Wochen war bei „Himmel und Erde“ klar, dass der Kameramann Helmut Pirnat nicht für mich filmen kann, und nach ein paar Ansätzen, bis Ostern sind ja die meisten Teile von ihm gefilmt, haben wir dies aufgegeben. Ich habe gesehen, wenn es um feine Äußerungen des Unbewussten oder Vorbewussten geht, kann man nicht erwarten, dass jemand diese Arbeit übernimmt, der ja ein ganz anderes Unbewusstes oder Vorbewusstes aufzuweisen hat. Bei dem Anspruch, den ich immer hatte, in Bezug auf das Persönliche bis hin zum Privaten muss man einfach selber filmen, da man seinen Zugang nicht übersetzen kann. Als Beispiel ist hier etwa jene Szene im ersten Teil von Himmel und Erde zu nennen, in der wir vor dem Haus des Bauern stehen und ich ihn frage, ob wir eine Portraitaufnahme machen wollen und wie und wann er sie gerne machen würde. Davor habe ich meinem Kameramann gesagt und wir haben davor schon in diese Richtung trainiert, dass wir zum Hof hinauffahren, dort ein Interview drehen und ich den Besitzer fragen werde, wie er das Portrait gerne gestalten würde. Wie soll ich das filmen, war seine Antwort, meine Antwort: Wir werden nichts proben, wir fahren einfach hinauf, ich klopfe an die Tür und du fängst zu filmen an. Auf die „russische Art“ habe ich gesagt, dass weiß ich noch, du filmst auf die „russische Art“. Was bedeutet auf die „russische Art“, seine Gegenfrage. Naja, einfach so, du filmst, was kommen wird, mir ist eigentlich egal wie. Wichtig ist, dass du es auf deine Art und Weise filmst. Ob unser Toningenieur Georg mit seinem Mikro, der dann auch zu sehen ist, im Bild ist oder nicht, ist egal. Ich will einen authentischen, glaubhaften Ausdruck deiner Herangehensweise an die Szene, die ich auf meine Weise mit dem Bauern gestalten werde. Dies war aber dann auch die Grenze dessen, was mit ihm möglich war. Er hatte mit mir einen starken autoritären Konflikt, dies ist natürlich vielleicht auch eine Unterstellung oder es ist auf jeden Fall eine solche, aber so erinnere ich es. Er hat sich immer mehr oder weniger davor gefürchtet, meinen Ansprüchen nicht zu genügen. Als Werbe- und Spielfilmkameramann, wobei ihn die offenen Formen sehr interessiert haben, war er selbst nicht in der Lage, sich so freizuspielen, um es einfach irgendwie zu filmen. Seitdem habe ich alle meine Filme selbst gedreht, bis auf „Feldberg“ (1987–1990). Für diesen Film habe ich Peter Schreiner eingeladen, dies zu übernehmen, weil wir eine ähnliche Herangehensweise hatten und haben.
Ich wäre sicher, dies haben mir einige Leute in den vielen Jahren, die ich schon lebe, auch gesagt, ein guter Kameramann geworden. In den drei Semestern Filmschule Wien, im Keller der Akademie am Schillerplatz habe ich die Kameraarbeit für ein paar Freunde übernommen. Für Khosrow Sinai, für Gert Winkler, für Franz Nowotny und für Alejo Cespedes. Ich wollte aber eigentlich nie ein Kameramann für andere werden, sondern vor allem meinen Blick vertiefen. Es war damals schon längst jene Frage für mich bestimmend, wie meine eigenen Gefühle aussehen und nicht wie sieht der Ausdruck meiner durch meine Eltern, durch die Sozialisation importieren Gefühle aus. Auch nicht, wie sehen die gefälschten oder vergewaltigten oder gemaßregelten Gefühlsausdrücke aus, sondern wie sehen tatsächlich meine eigenen aus. Dies war immer die Spur, der ich gefolgt bin, und in Bezug darauf habe ich auch keine Ruhe gegeben. Diesbezüglich war ich sehr stur, immer schon, von Kindheit an. Dies hat natürlich wiederum seine Wurzeln in meiner Sozialisation. Im Buch „Michael Pilz, Auge-Kamera-Herz“ von Olaf Möller und Michael Omasta, bei SYNEMA und Filmmuseum erschienen, habe ich deswegen auch ausführlich von meiner Kindheit erzählt. Man soll einen Begriff davon bekommen, dass meine Arbeiten nicht einfach vom Himmel fallen, sondern dass sehr konkrete Geschichten mich dazu gebracht haben, zuerst zu einem Augenmensch und dann zu einem Ohrenmensch zu werden.
RB: Bei Himmel und Erde kommen öfters Fotografien vor und dienen als filmimmanente Bedeutungsträger.
Pilz: Oft nicht, aber es gibt gewisse Sequenzen, in denen sie vorkommen. Die Bewohner von Obdach konnten ja auch sehr interessante Fotos vorweisen wie etwa der eine Wirt, bei dem irrsinnig schöne Fotos in einem Album vorhanden waren. Aber etwa auch in der Szene in Kratzers Küche, in der wir sein Album anschauen, wird dies deutlich. Die Sequenz mit dem am Vortag verstorbenen Grünbauern ist ein weiteres Beispiel, bei dem Fotografien zu sehen sind. Er war verstorben und sinnigerweise an diesem Morgen hat die Filmkamera plötzlich nicht funktioniert. Daher habe ich mit einer Olympus-Kleinbild-Kamera Portraits von Nachbarn und Freunden gemacht, sie abgefilmt und die Portraitierten dazu sprechen lassen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sie alle von ihrem eigenen Ableben berichten. Ein sehr befremdlicher Eindruck, wie ich beim Schnitt sehen konnte, wenn ich auch schon davor wusste, dass es in diese Richtung gehen wird. Eigentlich ist es auch ein guter Ausdruck meiner unbewussten Bestrebungen gewesen, und wahrscheinlich wollte ich es gerade so erzählen. Dafür sind natürlich Fotografien sehr geeignet, und dass die Filmkamera gerade zu diesem Zeitpunkt defekt ist, war so gesehen perfekt.
Ich finde, dass bei „A Prima Vista“, gerade über die Musik, aber auch mittels der Bildsprache ein starker melancholischer Zug zu bemerken ist. Dieser ist für mich mit der Fotografie verbunden und hier vor allem mit jenen fotografischen Bildern, die mit persönlichen Erinnerungen aufgeladen sind. Roland Barthes spricht diesbezüglich vom punctum des fotografischen Bildes.
Ich glaube auch, dass das Foto, das langsame Bild mit diesem verbunden ist. Deswegen sind meine Filme auch immer langsamer geworden. Die Bilder bleiben immer länger stehen. Bei „Roman Diary“ habe ich die sozusagen als Standbild und ohne Stativ aus der Hand gefilmten Bilder in ihrer Laufgeschwindigkeit auf über zwanzig Prozent und noch weniger reduziert. Sie scheinen zu stehen und rühren sich kaum mehr, wobei sie sich aber dennoch bewegen. Dies erzeugt bei den Zuschauern eine eigenartige innere Offenheit. Ich habe dies in Buenos Aires erst kürzlich wieder erlebt. Es hängt aber natürlich auch vom Publikum ab, einzelne reagieren sehr berührt und offen. Wenn so etwas passiert, hat es sich schon ausgezahlt, den Film zu machen. Die Mehrheit ist aber natürlich ganz anders geschult und geht mit solchen Filmen nicht auf solch offene und unvoreingenommene Weise um. Bei „Feldberg“ wollte ich dies in Bezug auf die Leinwandgröße ausnutzen. Ursprünglich hatte ich geplant, „Feldberg“ im Cinemascope-Verfahren zu drehen, die Filmförderung hat jedoch gemeint, dass wir dies nicht tun können, weil es kaum mehr Apparaturen gibt, die dieses Format noch zeigen können. Diesen Umstand habe ich sehr schade gefunden, denn je weniger auf dieser Riesenleinwand passiert und somit eigentlich nur mehr das Korn des Filmmaterials in Bewegung ist, umso mehr passiert bei einem selbst. Du als Zuschauer musst die entstehende Lücke mit irgendetwas ausfüllen. Wenn nur du da bist, kannst nur du diese Leere ausfüllen. Es sei denn, es fahren vor dem Kino Autos vorbei, die du hörst, oder der Nachbar ist unruhig und lenkt dich ab. Deswegen wollte ich schon sehr früh gewisse Filme am liebsten wie im schwarzen Kino von Peter Kubelka in New York vorgeführt wissen. Ich träume immer von einem kleinen Raum, sehr bequem, sehr „cosy“ wie eine Gebärmutter eigentlich, in dem du mit der Projektion allein bist. Eigentlich sehr ähnlich, wie es gerade in der Sammlung Essl in Klosterneuburg mit einem Bild von Richter und noch einem zweiten, welches der Rezensent im Standard nicht erwähnt hat, vorgezeigt wird. Zuerst muss man sich telefonisch anmelden und hat dann einen Sessel zur Verfügung, der einen vor Ablenkungen schützt, und gleichzeitig eine Stunde Zeit, das Bild zu betrachten. Eigentlich wollte ich immer, dass die Menschen nicht mehr auskönnen und somit keine Entschuldigung dafür haben, dass sie selbst betroffen sind.
RB: Vielen Dank für den Tipp, ich bin schon gespannt, wie dieses Konzept in der Sammlung Essl umgesetzt wurde.
Pilz: Ja, eine wirklich interessante Herangehensweise. Ich habe voriges Jahr im Mai und im Juni eine kurze Filmreihe im Künstlerhaus kuratiert, mit ein paar erlesenen Filmen, bei denen ich gesagt habe, dass es Filme sein müssen, die eine private Herangehensweise aufzuweisen haben. Weiters sollten es Filme sein, die nicht im Verleih sind, die hier noch nie gezeigt worden sind und es sollten Filmemacher sein, die ich kenne, Freunde also. Wenn im Kino des Künstlerhauses, das 280 Plätze hat, 40 Leute verstreut sitzen, dann ist das eine erstaunlich gute Auslastung des Raumes. Man ist nicht beengt und hat genügend Platz neben sich, man kann für sich dahinträumen. Der Raum selbst hat eine tolle Atmosphäre, wenn Filme laufen, in denen nicht viel passiert, und man kontemplierend die Leinwand betrachten kann.
RB: Um ein weiteres Thema anzuschneiden, mich würde die bei dir zum Einsatz kommende Blow-up Technik interessieren. Als Beispiele lassen sich „Himmel und Erde“ oder etwa auch „A Prima Vista“ nennen. Ist die Verwendung nur dadurch bedingt, dass etwa Himmel und Erde für das Kino konzipiert wurde, oder ging es dir dabei auch um die Materialität des Films, das filmische Korn, welches deutlich in beiden Filmen wahrnehmbar ist.
Pilz: Hierzu gibt es eine Geschichte: Anfang oder Mitte der 1960er-Jahre, eigentlich schon früher, als ich fünfzehn war, hat mein Vater eine 8-mm Bolex gekauft, mit der ich gefilmt habe. Diese Kamera habe ich ihm abgenommen, da er selbst nicht wusste, was er damit machen sollte. Er hatte sie sich nur von einem Freund einreden lassen, da dieser der Generalvertreter von Bolex in Wien war und meinen Vater auch mit Jagdgläsern ausstattete. Zuerst habe ich mit dieser Kamera gefilmt, dann habe ich, als ich zweiundzwanzig, dreiundzwanzig war, mit einer Beaulieu gearbeitet und alles Mögliche ausprobiert. Ich habe Einzelbilder angefertigt oder das Filmmaterial bearbeitet und es etwa bemalt. Das ganze Material ist dann leider oder Gott sei Dank, wie man möchte, in Luzern auf der Halde verlorengegangen. Damals, 1964, lernte ich durch Peter Kubelka auch das New American Cinema kennen und war erstaunt, dass deren Vertreter sich trauen, ihr Material auf die Leinwand zu bringen. Wir haben selbst ja Ähnliches produziert, dieses Material jedoch für uns verwendet und es etwa im Voom-Voom, der ersten Wiener Diskothek im 8 Bezirk in der Daungasse, wo ich mit dem damaligen Eigentümer einen Vertrag zum Vorführen meiner Filme hatte, gezeigt. Dort hatten wir eine kleine Projektionsfläche über der Tanzfläche zur Verfügung. Wir haben alle möglichen 8-mm Kameras von der traditionsreichen Foto- Firma Orator ausgeborgt und gefilmt oder bereits belichtete Filme ausgeborgt und diese dann im Voom-Voom gezeigt. Somit haben wir jeden Abend ein Filmprogramm über die Köpfe der Tanzenden hinweg projiziert, mit ein paar wirklichen Highlights gegen Mitternacht – wie etwa die „Jagd auf den Orang Utan“. Für dieses Programm haben wir aber auch alles Mögliche selbst produziert, oft auch ganz konfus, so dass dann gar nicht klar war, wer denn eigentlich gerade die Kamera in der Hand hatte. Dann wollte ich das Ganze etwas strenger fassen und mit meinem damaligen Freund Gert Winkler, mit dem ich eigentlich große Filme machen wollte, Spielfilme, habe ich dies dann auch getan. Im Fahrwasser von Mao haben wir sozusagen die Kulturevolution installiert und gesagt, jede Woche ein paar Filme. Hierzu haben wir uns bei der Generalvertretung am Schwarzenbergplatz zwei 8-mm Fuji Kameras, die man zurückkurbeln und somit mehrfach belichten konnte, und auch Fuji Material gekauft. Das Filmmaterial haben wir, solange wir Geld hatten, kartonweise eingekauft und jede Woche gefilmt. Das produzierte Material haben wir gesichtet und getreu dem Credo von Mao gesagt, es nächste Woche besser zu machen. Auf dieser sogenannten experimentellen Schiene zu fahren und zu arbeiten, stand somit quasi vor mir. Ähnlich erging es mir dann auch, als ich John Cook Anfang der 1970er-Jahre kennenlernte, der ja auch in diesem als experimentell bezeichneten Bereich arbeitete. Als wir das Projekt Langsamer Sommer (1974–76) gemeinsam konzipierten, war klar, dass wir den Film auf Super-8mm drehen und den Ton mit einem Uher Kassettenrecorder aufnehmen werden. Weil ich damals in Kontakt mit Leacock und anderen Leuten vom MIT war, aber auch andere Filmschaffende in den USA und in London kannte, die mit Super8-mm arbeiteten, habe ich zu ihm gesagt – er selbst wollte, dass wir uns einen Super8-Schneidetisch anschaffen –, dass wir einmal versuchen sollten, das Material auf ein anderes Format bringen zu lassen. Ich wusste einige Adressen, an die man sich diesbezüglich wenden konnte, und stieß schließlich auf Helmut Rings in München und dessen einzigartiges „Studio für ökonomische Filmbearbeitung“.
Helmut Rings ist der besten Labortechniker, den ich je getroffen habe, die Techniker des Wien-Film-Labors waren dagegen Amateure. Sie haben das gesamte Negativmaterial von Himmel und Erde zu heiß und zu rasch getrocknet. Dadurch wurde jener feine Staub, der sich im Behälter zur Trocknung des eben entwickelten Negativs abgelagert hatte, in das Negativmaterial eingebrannt, da sie äußerst unsachgemäß gearbeitet hatten. Teilweise haben wir dann im Zuge der englischen Untertitelung bei der Luzerner Firma Cinetyp versucht, mittels eines grauen Fettstiftes die im 35-mm Positiv als helle Pünktchen sichtbaren Staubreste Punkt für Punkt auszubessern. Die Wien-Film hatte ihren Fehler immer geleugnet, bis ihnen Helmut Rings in einem einstündigen Vortrag auf der Photokina in Köln nachgewiesen hat, dass sie dafür verantwortlich sind. Zuvor hatte auch er schon in München versucht diese Entwicklungsfehler auszubessern, was ihm jedoch nicht gelungen ist, da der Staub in das Negativmaterial sozusagen eingebrannt war.
Der Film Langsamer Sommer, der bei Helmut Rings auf 35-mm vergrößert wurde, war praktisch die Generalprobe für „Himmel und Erde“. Im ursprünglichen Konzept von „Himmel und Erde“ waren aber 16-mm vorgesehen, obwohl ich mir hier nicht sicher bin. Ich denke aber, dass es sich erst während der Produktion ergeben hat, und zwar wahrscheinlich zu jener Zeit, als mir klar wurde, wie hoch die Qualität des Materials ist, und ich mir gesagt habe, dass es wirklich auf die Leinwand gebracht werden muss. Hierfür ist das 16-mm Material natürlich ungenügend, einerseits wird es relativ rasch kaputt und andererseits ist auch der Ton mangelhaft. Wenn ich aber so nachdenke, vielleicht hatte ich die 35-mm doch schon vorher – aufgrund der Erfahrungen beim Gemeinschaftsprojekt „Langsamer Sommer“ – in die Kalkulation mit aufgenommen. Ich glaube jetzt sogar eher, dass bereits in der Kalkulation die Rede von neunzig Minuten und 35-mm war. Da jedoch das Material so gut war und ich immer schon gesagt habe, der Film wird solange dauern, wie er dauert, und darf so viel kosten, so viel ich nur aufbringen kann, ist er schließlich fünf Stunden lang geworden. Daher war dies dann schon Absicht, die sich aus der zuvor kurz skizzierten Geschichte über den Versuch bei Langsamer Sommer ergeben hat. Bei ihm konnte ich sehen, wie man mit dem kleinen Format arbeiten und dennoch auf die große Leinwand gehen kann. Ich habe daran lange festgehalten, auch bei „Feldberg“ habe ich zu meinem Executive- Produzenten Veit Heiduschka, mit dem ich diesen Film gemeinsam produziert habe, gesagt, wir könnten ihn auch von Super16-mm umkopieren lassen, jedoch wollte er dies nicht (Produzenten wollen wegen des eigenen finanziellen Vorteils meistens möglichst teuer produzieren).
RB: Bei „Himmel und Erde“ kommt es öfters zu Szenenwiederholungen. Als ganz markantes Beispiel wäre hier etwa das Kind auf der Schaukel zu nennen. Worin liegen diese begründet oder woran hast du hierbei konkret gedacht?
Pilz: Beim Sein in den Obdacher Bergen habe ich irgendwann das Gefühl gehabt, dass das eine hermetische Gegend, eine hermetische Gesellschaft, ein hermetisches Leben ist. Diese Gegend ist so abgeschlossen, so weit weg von der Welt, also von Buenos Aires, New York, Tokyo oder von wo auch immer, dass ich selber manchmal das Gefühl hatte, es wird mir dort zu eng. Bald schon, Helmut Pirnat war noch mein Kameramann, habe ich mir und dann den anderen gesagt, ich werde diese Hermetik, diese abgeschlossene, in sich und für sich lebende Welt der Menschen in den Bergen aufzureißen, aufzubrechen versuchen. Ich möchte den Film nicht für die Leute dort oben, sondern für uns, für die Menschen in New York, Tokyo, Stockholm usw. machen. Daher wollte ich, wenn man so möchte, eine formal-ästhetische-poetische Linie einschlagen, die es erlaubt, dieses hermetische Material aus dieser hermetischen Gegend, aus diesen hermetischen Situationen zu öffnen, um auch zu sagen, das ist nicht nur dort, sondern überall. Du kannst in New York im East Village in den Film eintauchen und du bist auch dort bei den Bergbauern von St. Anna. Ich habe an verschiedene Möglichkeiten gedacht, wie zum Beispiel daran, einen Anflug in der Nacht auf New York zu filmen und ihn, einmal kürzer und dann wiederum länger, immer wieder im Film vorkommen zu lassen. Damit man als Zuschauer plötzlich in einer völlig anderen Welt ist. Ein anderes Beispiel wäre, dass ich angefangen habe, immer die zweite Seite einer Lokalzeitung zu sammeln, um dann eventuell, so war mein Gedanke, gewisse Nachrichten mit etwas ganz Anderem zu konfrontieren, damit dieser „closed circuit“ irgendwie aufgerissen wird. In der Endphase des Filmschnitts kam ich dann schließlich auf die Möglichkeit der verbalen Zitate, die ich von den verschiedensten schriftlichen Quellen, aber auch von dort ansässigen Leuten borgte. Die verbalen Zitate, die ich gesprochen habe, habe ich damals mit Grippe und daher mit verschnupfter, heiser Stimme in einem tiefen Keller im Studio vom Gerhard Bronner, unter dem damaligen Imperial Kino, eingesprochen. Zusätzlich schnitt ich dann als rote Schrift noch Zitate in Textform ein. Manchmal absurde Sätze, die einen wirklich zum Nachdenken bringen. Bei diesen Sprüchen, egal ob von Jesaja oder von Laotse, hatte ich immer das Gefühl, dass bestimmte Personen aus St. Anna diese selber formulieren hätten können, wenn sie eine andere Bildung gehabt hätten. Ihre Herangehensweise an die Welt empfand ich genauso, diese Weisheit habe ich ihnen zugestanden oder auch zugemutet, deswegen habe ich diese Sprüche ja auch so verwendet.
Bei „Himmel und Erde“ habe ich die Zeitlupe überhaupt das erste Mal eingesetzt. Es gab Teile des Films, die ich nirgendwo verwenden konnte und die in Schachteln – wohlgeordnet und beschriftet – verwahrt waren. Im Speziellen gab es ein Stück, welches noch von Helmut Pirnat, auch unter sozusagen Zwangsanordnung, gedreht wurde: Du filmst jetzt, wie ist mir egal, du kannst jetzt nur filmen und dich nicht erst um die Art und Weise unterhalten, wie gefilmt werden sollte, denn die Situation ist gleich vorbei und sie war schon fast vorbei. Dies war die Szene mit den vier Kindern vor der Hauptschule in Obdach, die an der Wand stehen und beginnen, einen aus der Reihe zu drängen. Dieser geht dann zu unserem VW, setzt sich hinein und blickt uns an. Eine symptomatische Geschichte, die im Original in eineinhalb Minuten abläuft. Ich wusste aber nicht, was ich damit machen sollte. Jedoch habe ich, als wir in der Früh zu dieser Schule gefahren sind und die Vier stehen gesehen haben, sofort gewusst, dass ist die Szene. Natürlich wusste ich nicht warum, ich wusste nur, sie muss gefilmt werden, und Helmut Pirnat hat überhaupt nicht gewusst, warum er sie filmen soll. Ich habe gesagt, du filmst jetzt und er hat die Kamera einfach hingehalten. Vielleicht habe sogar ich die Kamera eingeschaltet, weil ich wusste, die Szene ist schnell vorbei. Der Moment und dies hat etwas mit Fotografie zu tun, hat eine Bedeutung, die man nicht und schon gar nicht im betreffenden Augenblick diskutieren kann. Die Rolle des Jungen war mir emotional ganz wichtig. Ich merke dies auch noch jetzt, wenn ich mich wieder erinnere. Ich konnte vor Ort nicht genau sagen warum, aber sie war mir wichtig. Eines Tages sitze ich schließlich am Schneidetisch, lege diese Szene ein und frage mich, ob ich sie nicht irgendwie verwenden könnte. Mit dem Steenbeck-16-mm-Schneidetisch hat man die Möglichkeit die Szenen zu verlangsamen, und da wurde etwas sichtbar, was bei normaler Geschwindigkeit gar nicht zu sehen ist. Ich konnte sehen, wie brutal jener, der sich wieder in die Reihe stellt, von den anderen hinausgedrängt wird und dann schwenkt die Kamera mit ihm zu unserem VW-Bus und da drin sitzt ein Mitschüler und blickt schüchtern aus der offenen Schiebetüre heraus, wie ein Zeuge, der sich der Aussage enthält, obwohl er alles mitbekommen hat. Es offenbarte sich somit eine komplexe Geschichte, und ich habe immer das Gefühl gehabt, in dieser Geschichte ist der ganze fünfstündige Film und die ganze Welt dort oben in den Bergen enthalten. Dazu habe ich dann das Geräusch jenes Zuges übernommen, der durch Obdach gefahren ist und immer kurz vor der Bahnüberquerung diesen Signalton ausgestoßen hat. Ein Zeichen dafür, dass es jetzt beginnt, oder auch dafür, dass es genau darum geht.
Die Aggression war genau jener Aspekt, der in Obdach fast nicht zu filmen war. Nur einmal durch Zufall war dies wirklich möglich. Obwohl ich zum Kratzer gesagt habe, wenn du dein Schwein verkaufst, sagst du mir dies einen Tag vorher, hatte er mir nichts gesagt. Daher war es purer Zufall, dass wir bei seinem Hof den Wagen des Fleischhauers stehen sahen. Sofort haben wir zu filmen begonnen, und ich hatte eigentlich nur mehr vier Minuten Material zur Verfügung. Ich wusste nicht, was genau passieren würde, dennoch habe ich es mit diesen vier Minuten geschafft, die Geschichte bis ins Dorf unten zu drehen, wo das Lebendgewicht des Schweins gewogen wird. Dies war auch der einzige Moment an der Schnittstelle zwischen bäuerlicher Produktion und Agrar-Industrie, den ich gefunden habe. Diese Beziehung haben die bäuerlichen Bewohner von Obdach offenbar strikt verdrängt. Sie haben sie für sich selbst ausgeblendet, da dies sicherlich auch die leidvollste Schnittstelle in ihrem Leben war, wo sie sozusagen aus ihrem Herzblut heraustreten und ihre Seele auf diesem „Raiffeisensektor“ verkaufen mussten.
Wie die Szene mit den vier Kindern ist auch der Bub in dem Reifen eine Metapher für mich. Der Wolfi, der Neffe der Lehrerin im Ort, auf deren Hof er auch gewohnt hat, wirkte immer so, als ob es ihm ganz schlecht gehen würde. Er hat nicht viel geredet und gerade diese Stummheit habe ich in Obdach oft erlebt, ein Schweigen von Menschen, die sich schwertun, irgendetwas zu äußern. Dann schwingt sich gerade er auf den Reifen, schwingt mit diesem hin und her, wobei er sich jedes Mal, wenn er zurückkommt, seinen Kopf anschlägt. Er lächelt aber und hat den Mut, wiederum hinauszuschwingen. Genau das ist es, etwas Anderes kann man zum Leben eigentlich gar nicht mehr sagen: Hau dich hinaus, fliege über die Hänge hinweg, hebe ab von der Erde, trau dich, dir diesen Flug zuzumuten, auch wenn es dich öfters zurückwirft. Daher war für mich klar, dass diese Szene öfters im Film vorkommen muss. Eine Frau, ich glaube letztes Jahr in Berlin, hat mich auch gefragt, warum ich das Musikstück von Mozart, das diese Bilder begleitet, in so schlechter Tonqualität aufgenommen habe. Meine Antwort war, dass es auf der Kurzwelle im Radio gelaufen ist und ich die Kurzwelle sehr schätze, weil ich mit dem Kurzwellensignal erzogen worden bin und es gerade dieser Mozart auf der Kurzwelle war, der dieses Bild benötigt hat. Es hätte nie ein perfekter, reiner Klang sein können, es hat dieser verwischte Mozart sein müssen.
Die Wiederholungen, aber auch die zuvor schon erwähnten Zitate haben etwas Gebetsmühlenartiges, welches noch durch die Länge und im zweiten Teil durch die poetische Öffnung betont wird. Hier kommen ja dann auch Aufnahmen wieder, die man eigentlich schon gesehen hat. Es kommen aber auch Geräusche und Töne wieder, die ich gernhatte und die den Film mehr zu meiner oder deiner persönlichen Sache machen. Nun kann man das Leben der Bergbauern auch vergessen, da man es schon kennt, etwa aus dem eigenen Leben und weiß, wie mühsam es sein kann, aber auch so intensiv betrachtet und kennengelernt hat, dass man sich selbst einmal etwas Anderes zumuten muss.
RB: Eine abschließende Frage würde sich mir noch stellen und zwar, wie du dazu stehst, wenn man deinen filmischen Zugang als ethnographisch motiviert bezeichnet.
Pilz: Vor allem Literatur aus diesem Bereich war früher wichtig für mich, wie etwa für „Himmel und Erde“ Georges Devereux’s „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“. Aber auch Oscar Lewis’ berühmtes Werk über den mexikanischen Bauern – Pedro Martinez – ist hier zu nennen. Das Reisen und das Kennenlernen waren immer treibende Kräfte. Insbesondere über das „Fremde“, das Fremde in mir selbst kennenzulernen war mir wichtig, im Speziellen um diese Umkehrung ist es mir relativ bald gegangen. Zu sagen ist aber auch, dass es im sogenannten dokumentarischen Film etwa in Kanada oder Australien, hier gibt es ja namhafte Filme, schon immer wichtig war, hinauszugehen und Feldforschung zu betreiben, um sich anzuschauen, wie etwas wo passiert. Nur war mir hier Devereux mit seinem Blick auf sich selbst schon sehr wichtig und die Erkenntnis, dass wir uns hier eben nicht ausnehmen können. Sein Ansatz war dann auch mitausschlaggebend dafür, dass ich gesagt habe, dass es kein Film über Bergbauern, sondern bestenfalls ein Film mit Bergbauern und über meine filmische Herangehensweise an diese Aufgabe wird. Somit einen Versuch darstellt, etwas vom Dazwischen zu erzählen, mehr kann man eigentlich auch gar nicht sagen (Watzlawick sagt, „Wirklichkeit ist Kommunikation“).
In meiner Bibliothek stehen einige wichtige Werke aus dem ethnographischen, ethnologischen oder anthropologischen Bereich. Letztlich tun wir ja auch nichts Anderes, wahrscheinlich ist dies auch biologisch bedingt, als uns mit dem Fremden zu beschäftigen, denn sonst würden wir wohl sehr schnell kaputtgehen. Deswegen habe ich früher einmal Franz Blei zitiert, dieses Zitat ist etwa auch in meinem Zitatenbuch Kein Film – ein Stückwerk zu finden. Dieser hat gesagt, in meinen Worten wiedergegeben, dass es in Zeiten, wo die Ökonomie so sehr auf den Konsum hindrängt, guttut, dort hinzuschauen, wo das Fremde in uns selbst ist. Oder wie Devereux dies ausdrückt: „Wenn du nur nach außen schaust und nur die äußeren Geschichten perlustrierst (beachtest, Anm.), kommst du irgendwann einmal zu einer schier unendlichen Fülle nichtssagender Details, es sei denn du drehst den Blick um und schaust – und manchmal nur ausschließlich – dich selbst an.“ Dies ist für mich immer ein sehr wichtiger Satz gewesen, den ich bei jeder Gelegenheit öffentlich verwendet habe, um klar zu machen, wovon ich rede. Er ist auch in „Kein Film – ein Stückwerk. Dziga Vertov“ zu finden sowie ein anderer Lieblingssatz von mir, der mich schon mein ganzes Leben lang begleitet und mich immer wieder nachdenken lässt. Natürlich hat man Laotse auch Solipsismus vorgeworfen, aber die Behauptung „Alles ist in uns, nichts ist außerhalb“ hat schon manche Leute, denen ich dies gesagt habe, auf die Palme gebracht.