Noah Delta II

Interview mit Eike Schmitz, Filmemacher und Literaturwissenschaftler, in Westberlin, am 20. Februar 1986, im Zusammenhang mit der Teilnahme von NOAH DELTA II an der Filmmesse der Internationalen Filmfestspiele Berlin 1986.

Eike Schmitz:
Wie kamst du auf die Idee von NOAH DELTA II und wie hat dieser Spielfilm mit deinem viereinhalbstündigen Dokumentarfilm HIMMEL UND ERDE von 1982 zu tun?

Michael Pilz:
HIMMEL UND ERDE arbeitet sozusagen von außen nach innen, mit der Methode der annähernden Beobachtung. Die Kunst bestand darin, Eindrücke so augenblicklich und spontan wie nur möglich zuzulassen und sie gleichzeitig mit der Kamera und mit dem Mikrofon festzuhalten. HIMMEL UND ERDE geht ein Zitat von Laotse's Taoteking voraus, "Nimm das, was vor dir ist, so wie es ist, wünsche es nicht anders, sei einfach da."
Kunst, auch Film, hat sich darum zu bemühen, Einblicke zu gewähren, in das, was wir die Wirklichkeit nennen. Menschen haben ihre eigenen Erfahrungen damit und Vorstellungen davon, ganz entsprechend ihrer eigenen Geschichte. Was uns untereinander verbindet, oder voneinander trennt, was die gemeinsame Geschichte sein kann, lässt sich nur feststellen, wenn wir uns — jeder für sich einmal — selbst beobachten und dabei nicht vor etwas haltmachen, was uns Angst macht. Denn Angst vor etwas lässt uns schnell über Tatsachen hinweggehen und hinwegsehen und die Folge davon ist, dass wir uns Wirklichkeit und Leben zwar vorstellen, aber nicht wirklich leben.
Schon während des fast zweijährigen Filmschnitts an HIMMEL UND ERDE  dachte ich daran, den nächsten Film umgekehrt machen zu wollen , also von innen nach außen. Ich wollte ein genaues Drehbuch schreiben mit allen nötigen Details. Das hieß, dass ich, sobald ich die Grundstory von NOAH DELTA II gefunden hatte, mich selbst beim Schreiben jenem Prozess aussetzte, der bei HIMMEL UND ERDE während der gesamten Arbeit stattgefunden hatte. Ich versuchte, schon lange vor den Dreharbeiten also, Ängste und Wünsche zu artikulieren und zu hinterfragen, indem ich ganz persönlichen und vielfach unterbewussten Erlebnissen nachging. Dieser Prozess — auch einer Annäherung — schlug sich in der Geschichte, in den Szenen, in den Handlungen und in den Dialogen nieder und er dauerte während der ganzen Zeit der Filmherstellung an. Damit führt NOAH DELTA II von innen nach außen.
Seltsamerweise sind sich beide Filme in ihrem Ausdruck ähnlich. Oberflächlich betrachtet mag man dabei nichts Gemeinsames feststellen, doch im Grunde schließt NOAH DELTA II nahtlos an HIMMEL UND ERDE an.

ES:
HIMMEL UND ERDE hattest du fast zur Gänze alleine gemacht, dein Name steht verantwortlich für Regie, Kamera, Schnitt und Produktion. NOAH DELTA II hingegen hast du mit einem großen Stab hergestellt, teilweise mit Schauspielern und das alles überdies in Ungarn.

MP:
Natürlich ist es so, dass eine kollektive Arbeit immer schwerfälliger ist als eine Arbeit, die man alleine macht. Trotzdem glaube ich, dass es in NOAH DELTA II gelungen ist, etwas von den mir wichtigen und gewöhnlich unauffälligen Details, die schon im Drehbuch standen, in den Film hinüberzuführen.
Natürlich ist es nicht so leicht, einen großen Mitarbeiterstab auf eine bestimmte Wellenlänge, Sensibilität einzustimmen, noch dazu auf eine, die mehr mit dem Zufall arbeitet, als mit den von vorneherein beabsichtigten Wirkungen. Denn NOAH DELTA II ist, als Ganzes gesehen, ein Film, dessen Thema auch der Zufall ist. Jener Bereich von Erlebnissen, die nicht vorhersehbar sind, die überraschend eintreten und die auch nicht immer als angenehm empfunden werden.
Eine kollektive Arbeit kann auf Zufälle wenig Rücksicht nehmen; sie kann eine augenblickliche und spontane Wahrnehmung und eine Dokumentation derselben nur innerhalb der durch eben dieses Kollektiv geschaffenen Grenzen möglich machen. Die Tatsache eines Kollektivs setzt ja voraus, dass die wesentlichen Details schon vorher artikuliert werden. Am Ort des Drehens kann man nur mehr danach trachten, aus der Gegenüberstellung von Ideen und konkreten Verhältnissen  das Bestmögliche zu machen. Ich habe einmal an anderer Stelle gesagt, dass es Film allgemein und Spielfilm besonders an der Liebe zum Detail mangle. Ich meine damit, dass die meisten Filme erst dort beginnen, wo sie eigentlich schon zu Ende sind. Wo es, für mich zumindest, nicht mehr interessant ist ihnen zu folgen, weil sie bereits Opfer der Selbstzensur geworden sind, Opfer einer Art Angst vor tieferen Einsichten. Alles was wir ausdrücken und herzeigen, auch im Film, zeigt oder macht zumindest fühlbar, was wir darüber hinaus verbergen, vielleicht verbergen müssen, weil wir seine Entdeckung nicht ertragen können. Diese Grenzen interessieren mich und ich versuche, aus dem Verborgenen zu schöpfen.

ES:
Was bedeutet der Titel, NOAH DELTA II und was ist die verborgene Idee?

MP:
Die Idee wird im Film selbst sehr deutlich, mitunter vielleicht zu deutlich, sodass es schmerzt, den Film anzusehen. Ich bin jedoch der Auffassung, dass wir nur insofern fortschreiten können, wenn wir uns der eigenen Schmerzen und Leiden annehmen und damit beginnen, sie zuzulassen und sie uns vor Augen zu führen.
Der Film erzählt nicht viel Anderes, als es bereits HIMMEL UND ERDE tat. Er erzählt von der Schwierigkeit zu leben, in handfesten Verhältnissen, die es wahrzunehmen gilt, möglichst augenblicklich und unvermittelt, um nicht daran zugrunde zu gehen. Man denke an die sagenhaften Dinosaurier und ihre Unfähigkeit zu überleben. Was immer dafür die Ursachen waren.
Die Frage ist daher, wie nehmen wir etwas wahr, wie begreifen wir etwas und wie gehen wir durchs Leben. Wenn immer wieder, in geschichtlichen Etappen, Krisen auftreten, auch im ganz persönlichen Leben, dann sollten wir uns fragen, welche tiefere Beweggründe zur Krise führen und uns immer wieder daran hindern, Krisen zu überwinden. Das können nur Fragen sein, die sich nach innen richten, nicht nach außen.
Noah ist eine legendäre Figur aus der biblischen Geschichte. Gott hatte ihn damit beauftragt, eine Arche zu bauen, um darin, mit den Seinen, die Sintflut zu überleben.
Delta ist ein griechischer Buchstabe, ein Zeichen mit drei Seiten und als solches steht es vielfach in Verwendung, beispielsweise in der Mathematik oder in der Astrologie. Für mich ist es ein Zeichen für weitere, vielleicht noch unbekannte, unbewusste Möglichkeiten, ein Symbol der Rätsel und des Unfassbaren. Wir können ja wirklich nicht sagen, wohin das Leben führen wird. Und Jonas und Maria — in der Geschichte von NOAH DELTA II — wissen das auch nicht, ja vielmehr, sie wollen es auch gar nicht im Voraus wissen, sie wollen es eben erst erfahren, auf ihrer Reise. Noah wusste auch nicht, ob es eine Rettung geben werde. Wahrscheinlich empfand er ein tieferes Vertrauen in ein gutes Ende. Ohne ein solches Vertrauen lässt sich auch heute, jenseits aller Legenden, nichts Wirkliches erreichen. Dazu kommt, dass wir ständig daran arbeiten müssen, uns nichts vorzumachen, denn aus Träumen wacht man mitunter auch gar nicht auf.
Die Ziffer Zwei symbolisiert eine Art zweite Unternehmung Noah, wobei ich damit nur eine sehr leise Anspielung auf die ursprüngliche Unternehmung wage, nicht so sehr auf diesen Film bezogen, als vielmehr darauf, dass wir alle vielleicht ständig in einer Art Arche dahin ziehen, ohne es zu wissen. Vielleicht verdrängen wir kollektiv die Tatsache einer andauernden Sintflut aus unserer Wahrnehmung, weil wir mit vielen Tatsachen so wenig anzufangen wissen.

ES:
Es gibt in NOAH DELTA II neben den Personen Jonas und Maria und ihrer Reise ohne festem Ziel eine zweite Geschichte, mit einer weiteren Hauptperson, die jedoch schweigt, über die wir nicht viel mehr erfahren, als das, was uns der Film zeigt.

MP:
Tatsächlich erfahren wir genug über diesen Unbekannten, denn wir sehen ja, was er tut, was ihm zustößt und wie er damit umgeht. Im Grunde braucht es keiner zusätzlichen Worte. Diese Geschichte erzählt sich mittels der Bilder und der Töne, der Musik. Es ist die Geschichte einer Wahrnehmungsstörung, eines Verfolgungswahns. Dieser Unbekannte hält offensichtlich Vorstellungen von Tatsachen und Tatsachen selbst nicht auseinander. Es vermischen sich Traum und Wirklichkeit. Eine Lösung dieses Zwiespalts kann nur dadurch erfolgen, dass der Unbekannte sich entscheidet, etwas zu tun.

ES:
Es gibt diese Szene, in der der Unbekannte von seinen Verfolgern an einer Mauer, unter Arkaden, umstellt wird. Er wehrt sich, schießt und wird gleichzeitig erschossen. Diese Szene spielt anfangs, wie auch alles schon zuvor, bei Tag. Unvermittelt aber wechselt der Schauplatz und aus Tag wird Nacht, während die Handlung nahtlos weitergeht.

MP:
Im letzten Bild dieser Szene sieht der Unbekannte das erste Mal mit eigenen Augen, was um ihn herum wirklich geschieht. Dabei nimmt die Filmkamera seine eigene Perspektive ein. Wir sehen durch die Augen des Unbekannten dass es Nacht ist, dass er sich auf einer ganz anderen Strasse befindet als zuvor, bei Tag, und dass er tödlich verletzt zu Boden sinkt. Seine Verfolger, teils auch verwundet, flüchten vom Schauplatz. Hier treibe ich die Geschichte des Unbekannten auf die Spitze, denn an seiner ersten und einzigen wirklichen Tat geht er gleichzeitig zugrunde.
Der Schauplatzwechsel und der Wechsel vom Tag zur Nacht machen deutlich, dass alles, was wir bisher vom Unbekannten zu sehen bekommen haben, einer, nämlich seiner Einbildung entsprach. Was tatsächlich geschah, gibt uns weder der letzte Blick des Unbekannten, noch der Film selbst preis. Diese Szene ist vielleicht der Schlüssel zum gesamten Film.

ES:
Wie kamst du auf die Idee, einen Film in zwei derart sich voneinander unterscheidenden Geschichten zu erzählen, denn sie verbinden sich erst sehr viel später, nachdem der Unbekannte längst von der Bildfläche verschwunden ist?

MP:
Die Geschichten, die wir erzählen können, unterscheiden sich im Grunde kaum voneinander, sie sind sich oft auf verblüffende Weise ähnlich. Mehr oder weniger deutlich geht es doch immer um die Frage, wie wir mit Verlusten, mit Enttäuschungen, mit Schmerzen, mit dem Tod fertig werden können. Natürlich freuen wir uns auch im Leben, doch Freuiden dauern nicht ewig. Den Tod betreffend habe ich den Eindruck, als versuchten wir immer wieder, uns über seine Tatsache hinwegzutäuschen, zum Beispiel dadurch, dass wir uns den vielfältigen Erscheinungsformen, in denen er auftritt, nicht wirklich aussetzen, wir halten uns diese Tatsachen vom Leib. Manchmal tun wir das durchaus bewusst, in der Mehrheit der Fälle geschieht es aber unbewusst. Entsprechend unserer — unbewussten — Zensurmaßnahmen kommt es zu bestimmten Vorliebe und Abneigungen, die, in die Tat umgesetzt, den natürlichen Lauf der Dinge — quasi künstlich — entweder behindern oder übertreiben. So kommt es, dass ein und dieselbe Tatsache von verschiedenen Menschen unterschiedlich begriffen, bewertet und erkannt wird und dort, wo man sich darüber nicht einig werden kann, gibt es häufig Krieg.
Um zu überleben und um Widersprüche zu klären, müssen wir lernen, den Tatsachen ins Gesicht zu schauen, vor allem aber müssen wir lernen, mit dem sozusagen bisher unsichtbaren Leben umzugehen. Nämlich mit jenem Teil unseres Lebens, den wir noch nicht wahrnehmen, den wir noch nicht begreifen, der uns nicht vertraut, nicht bewusst ist, den wir, ohne es zu wissen, ablehnen. Dafür gibt es genügend Ansatzpunkte, denn das bisher Unbegreifbare und Unsichtbare gibt uns ständig Hinweise und Zeichen, die wir nur aufgreifen und entziffern müssen.
So gesehen ist NOAH DELTA II ein Film, der fragt. Was von dem, das sich vor unseren Augen bewegt, nehmen wir auf welche Weise wahr und was in uns selbst nehmen wir auf welche Weise wahr und was bleibt uns draußen und drinnen verborgen?
Aristoteles prägte das abendländische Weltbild dadurch, dass er behauptete, das Eine schließe das Andere aus. Und umgekehrt. Nicht zuletzt durch den Einfluss anderer Kulturen neigen wir heute schon öfter zur Ansicht, dass das Eine sich nur im Anderen erkennen ließe und umgekehrt. Was uns also vermeintlich oder mutwillig oder aus unerfindlichen Gründen voneinander trennt, was sind wir selbst.
Leben ist eine natürliche, ununterbrochene Bewegung und es ist bis heute nicht geklärt, ob es mehr dem Zufall oder mehr der Notwendigkeit gehorcht. Der Eigensinn der Menschen und ihre Willkür führen am Leben oft vorbei. Trotzdem müssen wir uns ständig entscheiden, in alltäglichen Kleinigkeiten ebenso wie in weltpolitischen Fragen. So gestalten wir bewusst und unbewusst ständig unser Leben. An den Tatsachen können wir lernen, richtig zu leben, um zu überleben.
Wir begreifen die Dinge auf verschiedene Weise, weil wir sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Deshalb gibt es auch verschiedene Geschichten. Im Grunde gibt es keine Grenze, hinter der eine Geschichte zu Ende ist. Das Ende, auch das Ende eines Films, ist niemals das natürliche Ende, es ist immer ein willkürliches, ein künstliches Ende. Wähle ich einen  bestimmten Blickwinkel, so definiere ich dadurch mein Verhältnis zur beobachteten Tatsache. Was ich und wie ich etwas begreife, wahrnehme, gibt mir gleichzeitig, spiegelbildlich Aufschluss über mich selbst. Deshalb offenbart jede Handlung immer zweierlei, nämlich sowohl den Gegenstand der Handlung, als auch das Wesen, das Hand anlegt. Alle Bilder eines Films, die wir erkennen können, enthalten gleichzeitig auch alle jene Bilder, die wir nicht erkennen können.
So gesehen ist die Geschichte des Unbekannten in NOAH DELTA II die spiegelbildliche Geschichte jener von Jonas und Maria. Oder umgekehrt. Und beide Geschichten ergänzen einander. Das bedeutet aber nicht, dass die eine Geschichte die Erklärung der anderen wäre, vielmehr bieten sich dadurch mehrere Blickwinkel der Betrachtung. Man kann die Dinge von oben oder von unten sehen, von außen, von innen und so fort. Oft fällt es uns schwer, Tatsachen von Einbildungen zu unterscheiden. Wenn uns das Leben auf den Boden der Wirklichkeit zwingt, wachen wir enttäuscht aus unteren Träumen auf.
NOAH DELTA II erzählt Geschichten von Enttäuschungen, von Verlusten, von Schmerz, der damit verbunden ist und von den Versuchungen, weiter zu träumen.
Vergessen wir aber nicht, dass jede Enttäuschung den Verlust einer Täuschung bedeutet und dass uns am Ende nichts anderes übrig bleiben wird, als selbst wohl gehütete und lieb gewordene Illusionen aufgeben zu müssen. Jede Enttäuschung bringt uns der Wahrheit näher, den Tatsachen, ihren natürlichen Bewegungen und unseren Beziehungen dazu, zuletzt also uns selber.

ES:
Verglichen mit anderen Spielfilmen ist die Form, in der du NOAH DELTA II erzählst, etwas ungewöhnlich, manchmal auch anstrengend, gerade dadurch, dass sie konsequent den Inhalt des Films unterstreicht. Einerseits erzählen die Handlungen von Jonas, von Maria und vom Unbekannten von Rätseln, welchen sie selbst, mehr oder weniger, auf die Spur kommen wollen. Andererseits ist die Art und Weise, wie der Film gemacht ist, auch rätselvoll. Und so, wie die Figuren der verschiedenen Handlungen Lösungen anstreben, so wünscht man sich auch als Zuschauer Lösungen, Antworten.

MP:
Jonas und Maria kommen im Verlauf ihrer Reise manchen Lösungen und Antworten näher. Es ist nicht so, dass sie am Ende ihrer Reise Antworten auf alle ihre Fragen finden. Vielmehr finden sie einen Weg, der sie den Antworten näher bringt.
So gesehen kann ein Film auch nicht alle Fragen beantworten, er soll es auch nicht tun, denn dann gäbe es für die Zuschauer nichts mehr zu tun.
Man kann zwischen Inhalt und Form, zwischen Idee und Material, zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht unterscheiden, vor allem wenn es um Wahrheit, oder um die Suche nach Wahrheit geht. Die Form von NOAH DELTA II macht deutlich, dass die Art und Weise, wie wir uns einer Sache annähern, zur Lösung unserer Schwierigkeiten zumindest ebenso entscheidend beiträgt, wie die Frage, was wir den  begreifen sollten. Ich habe viele Filme gesehen, die einerseits von wichtigen Ereignissen erzählen, die dabei aber mehr oder weniger darauf vergessen, dass der Film selbst, in Form seiner Bilder, seiner Töne, seiner Montage, auch etwas erzählt. Ich vergleiche solche Filme mit Fahrzeugen, die einen Inhalt transportieren, gleichgültig, um welche Art von Fahrzeug es sich handeln mag.
NOAH DLETA II erzählt einerseits von Versuchen, im Leben einen Sinn und tiefer Zusammenhänge wahrzunehmen, zu begreifen. Es lässt sich nichts vorhersagen, jeder nächste Augenblick überrascht von neuem. Menschen tun etwas und stellen erst hinterher fest, was geschehen ist, was ihr Tun bewirkt hat, vielleicht auch, wohin ihr Tun führt, führen mag. Alle Vermutungen haben den Nachteil, dass sie sich an der Wirklichkeit und nur an dieser beweisen können. Andererseits zeigt NOAH DELTA II eine Fülle von Zufälligkeiten, die, zumindest den handelnden Personen, weitgehend unerklärlich sind und die sie daher auch verunsichern.
Jonas und Maria gehen auf eine Reise ohne bestimmtes Ziel, man kann sagen, sie reisen um des Reisens willen. Nur so können sie versuchen, das zu entdecken, was sich tatsächlich ereignet, selbst wenn es sehr schwierig ist, weil gerade eine sozusagen zufällige Reise von unbewussten Wünschen und Ängsten gelenkt und dieser Umstand dabei offenbar wird. Die Furcht vor unliebsamen Entdeckungen behindert sie und macht ihnen Schwierigkeiten.
Ähnlich ergeht es dem Unbekannten.
Wenn wir einen Ausweg aus der Krise finden wollen, dürfen wir nicht länger vor uns selbst davonlaufen. Wir sollten uns die Tatsachen vor Augen halten, vor allem die Tatsachen in uns selbst. So habe ich die Gefühle, die Jonas, Maria und den Unbekannten bewegen, in die Form des Films übernommen, um sie dadurch  deutlicher fühlbar und begreifbar zu machen. NOAH DELTA II erklärt nichts, der Film stellt einfach etwas fest.
Da die Geschichten, die Ereignisse in NOAH DELTA II im Grunde von Angst erzählen, hält sich auch die Form des Films daran. Ich konnte nicht, um Angst genießbarer zu machen, eine Form, oder eine filmische Sprache wählen, die Angst verleugnet. Denn ein unangenehmes Erlebnis bleibt im Grunde unangenehm, auch dann, wenn ich es zu einem angenehmen Erlebnis zu wandeln versuche.
Solange wir nicht lernen, auch und vor allem unangenehme Gefühl zu ertragen, solange werden wir, eingeschlossen in die Arche, den rettenden Berg suchen, ohne an ihm landen zu können.

ES:
Das Machen eines Films kostet viel Geld und deshalb bedarf es eines Publikums, um die Investitionen zu ermöglichen und zu rechtfertigen. Wie lässt sich Unangenehmes zeigen, vermitteln, verkaufen?

MP:
NOAH DELTA II ist in einem hohen Maß ein vergnüglicher Film, er ist unterhaltsam, er ist reich an einfachen und komplizierten Bildern, Szenen, Handlungen, Tönen, filmischen Elementen. Will man sich unterhalten, bedarf es dazu einer gewissen sprachlichen Übung. Im Grunde bedarf es einer Übung der Gefühle, der Eindrücke, ihrer Verarbeitung und nicht zuletzt des Ausdrucks.
Ich sehe mich außerstande, einen Film zu machen, der gleichzeitig auch sozusagen Sprachkurs ist. Vielleicht bin ich aber selbst noch nicht soweit, dies tun zu können.
Ich sehe eine Aufgabe von Film nicht unbedingt darin, sich an der Sprachlosigkeit zu orientieren. Immerhin gibt es nun seit bald einhundert Jahren dieses neue Medium. Und es gibt den Film, weil Menschen ihn erfunden, seine Sprache entwickelt und verfeinert haben. Es gibt daneben auch die Malerei, die Musik,  die Skulptur, die Literatur, die Oper, die gesprochene Sprache und einiges mehr. Wenn es schwierig erscheint, eine Sache zu begreifen, so kann man die Ursache der Schwierigkeit nicht einfach der Sache zuschreiben. Der Hunger wird nicht nur durch das gestillt, was schmeckt. In der Not frisst einer sozusagen auch den Teufel.

ES:
In der Regel wird Film doch nach dem Prinzip Angebot und Nachfrage gehandelt. Was geschieht, wenn NOAH DELTA II missverstanden oder gar nicht verstanden, gar nicht gesehen wird?

MP:
Natürlich kann und will ich niemand dazu zwingen, mir zu folgen. Was ich tun kann ist, einzuladen, mit mir zu gehen. Für viele Menschen ist Kunst nach wie vor eine Art Luxus. Kunst und Leben haben anscheinend wenig Gemeinsames. Offenbar gibt es ein Interesse, das diese Kluft klaffen lässt. Ich habe in unserem Gespräch dieses Interesse schon mehrfach erwähnt.
Ohne mich auch im Entferntesten mit Akira Kurosawa in Verbindung bringen zu wollen, möchte ich doch in Erinnerung rufen, wie er seinen Film RAN enden lässt. Ein Blinder tastet sich auf den Ruinen eines einst großen und mächtigen Reichs vorwärts. Kurz vor dem gähnenden Abgrund hält er instinktiv an. Dabei fällt ihm, bisher haben wir alles in einer weiten Totale gesehen, ein Gegenstand aus der Hand und nun sehen wir, in einer Großaufnahme, was es ist. Eine Bildrolle, die das goldene Antlitz eines Buddha aufleuchten lässt. Dann sehen wir wieder den Blinden vor dem steilen Abbruch stehen. Mit seinen Händen und mit seinem Stock tastet er in der Luft nach seiner verlorenen Bildrolle. Das ist das Filmende.
Wer aus der Geschichte, vor allem aus der eigenen Geschichte, nichts lernt, dem tut nichts weh. Wer nichts fühlt, der ist tot. Denn leben bedeutet fühlen. Und fühlen ist Arbeit. Und Arbeit bedeutet auch Schweiß. Machen wir uns nichts vor. Es gibt auch jene Legende, nach der die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden, weil sie vom Baum der Erkenntnis aßen.

ES:
Du machst es dem Publikum nicht leicht.

MP:
Was es wiegt, das hat es. Ich verniedliche nichts. Will sich denn wirklich jemand einen Vorteil vor anderen verschaffen, oder einen Genuss, der ihm oder ihr nicht zusteht?
Vor den Dreharbeiten zu HIMMEL UND ERDE, das war 1979, hatte ich versucht, mit einem Gebirgsbauern ins Gespräch zu kommen. Ich wollte ihn zur Mitarbeit bewegen. Es war Winter und es lag tiefer Schnee, hoch oben in den Bergen. Der Bauer war im Wald und fällt Bäume, die der Sturm geknickt hatte. Nach langem, Warten schenkte er mir endlich fünf Minuten Zeit und ich erzählte ihm von meinen Plänen. Er antwortete darauf kurz und einfach, dass es ihm gar nicht recht wäre, wenn ich ihn bei seiner mühevollen Arbeit filmen würde und später, im Kino, die Leute in bequemen Stühlen sitzen und ihm bei der harten Arbeit zuschauen würden. Er wollte nicht zugunsten des Vergnügens eines Publikums ausgebeutet werden. Er empfand das als ungerecht und wollte das Unrecht nicht unterstützen. Ich verließ ihn etwas ratlos, zerbrach mir den Kopf und begann mit meiner Arbeit.

ES:
Und was sind deine nächsten Pläne?

MP:
Ich habe viel zu tun mit mehreren Filmprojekten, fiktionalen und dokumentarischen. Es geht dabei immer wieder um ein Thema, nämlich um das Begreifen von Wirklichkeit und was sich dem entgegenstellt. Es geht um Gefühle, vor allem um jene, die uns ängstigen, was in der Regel dazu führt, dass wir an der Wirklichkeit vorbeigehen und vorbeisehen. Und es geht um vielfache Widersprüche zwischen innerer und äußerer Welt.

ES:
Ich danke dir.

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