Michael Pilz
Seminar an der Wiener Volkshochschule Stöbergasse am 7. März 1991
Ich danke Euch, dass Ihr die Mühe nicht gescheut habt, hierher zu kommen. Ich danke Michael Mascha dafür, dass er die Zeichen zu lesen vermag und es kurz entschlossen gewagt hat, diese Reihe von „Aktionen zum Non Fiction Film“, die wir also heute hier gemeinsam eröffnen wollen, ins Leben zu rufen. Und ich möchte all jenen danken, die dies einfach geschehenklassen.
Es wird berichtet, dass der Shogun den alten Hokusai gebeten hatte, ein Bild von Ahornblättern zu malen. Hokusai saß also dem Kaiser gegenüber und hörte sich dessen Wünsche und Vorstellungen an. Da lief ein Huhn vorüber. Kurz entschlossen fasste Hokusai danach, tauchte es in die Tusche und setzte es mehrmals auf dem Boden ab. Fertig war das Bild der Ahornblätter. Der Shogun konnte es fast nicht glauben. Hokusai war schon weit über die 90 Jahre alt, als er gesagt haben soll, jetzt wisse er allmählich, wie das mit dem Malen wirklich sei.
Non Fiction meint im allgemeinen das Gegenteil von eingebildet, oder ausgedacht. Non Fiction: Wir brauchen uns nichts mehr vormachen, alles ist offenbar, es ist so, wie es ist und wir sind bereit, es anzunehmen.
Ich möchte kurz den Anschein eines Widerspruchs berühren, der nicht alleine seit Beginn der Film- und Kinozeit die Leute kopfscheu macht. Auch schon die Höhlenbilder in den Pyrenäen waren vor zwanzigtausend Jahren Fiction und Non Fiction zugleich. Alle unsere Vorstellungen haben stets mit zweierlei zu tun, mit uns selbst und mit dem Drumherum. Das so genannt e Objektive, das von allem Subjektiven Unabhängige, das An–Sich–Seiende lässt sich wohl denken, im praktischen, alltäglichen Leben aber gibt es es nicht. Was immer mein Interesse weckt, durch meine Zuwendung für mich lebendig wird, augenblicklich hört es auf, Nicht–Eingebildetes zu sein und wird Fiction.
Es ist unser persönliches, bewusstes oder unbewusstes, in jedem Falle gänzlich unverwechselbares Interesse, das uns das Leben wie auch die Vorstellungen von Leben schafft. ich sehe etwas. Und etwas sieht mich an.
Als ich vor einigen Jahren meine Tochter Rosemarie wenige Minuten nach ihrer Geburt in meinen Armen hielt, fiel es mir wie die Schuppen von den Augen, als ich bemerkte, wie wach, offen und gelassen sie sich der Umgebung zuwandte und sie in sich aufnahm. Ich nenne es den Blick der Außerirdischen und meine damit etwas von der Art eines spirituellen Herantretens an diese Welt, die vergleichsweise vielleicht die Erbauer von Kathedralen, wie jener von Chartres beispielsweise, sie im Leben wie in der Arbeit ausgeübt zu haben scheinen. Es ist das ein Schauen aus dem tiefsten Inneren, ein Horchen, das die Schranken menschlicher Unzulänglichkeiten vielleicht noch nicht – oder nicht mehr – kennt.
Friedrich Engels schrieb, „alles was uns in Bewegung setzt, muss durch unseren Kopf hindurch. Aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“
Und Herbert Achternbusch meinte, „wir sind das geworden, was uns fehlt.“
Ich möchte daher diese Umstände hier herausfordern und Euch einladen und mitnehmen auf eine Reise, die uns vielleicht jener so genannten Unschuld eines Hinhorchens und Hinschauens wie dem eines Neugeborenen etwas näherführt. Vielleicht gelingt uns ein kurzer Sprung über die eigenen Schatten. Bescheiden möchte ich uns dafür Mut und Bereitschaft wünschen, allem, was uns dabei begegnen mag, offen und gelassen zu folgen. Denn mitunter sind gerade diejenigen Erfahrungen, die wir als Gefühle der Unlust empfinden, die für uns selber viel entscheidenderen Erlebnisse, wahrscheinlich wichtiger als jene, die uns, mehr oder weniger regelmäßig, Lust bescheren. Das ist wie mit dem Essen oder mit der Sexualität. Hier liegt für mich auch eine Antwort auf den scheinbaren Konflikt zwischen Fiction und Non Fiction bereit.
Ich habe gestern Abend aus einer fast unüberschaubaren Fülle von etwa 500 Stunden nicht sehr penibel archivierten Videoaufnahmen der letzten drei Jahre unwillkürlich ein Band hervorgezogen, das im Herbst 1988 tatsächlich auf einer Reise entstanden war. Es ist eine rein intuitive Arbeit, ich habe das Band damals aufgezeichnet und seither – bis zum gestrigen Abend – nicht wieder gesehen. Ich habe nichts davon entfernt, nichts wurde später hinzugefügt. Es ist für mich ein Beispiel eines Reiseprotokolls ins Unvorhersehbare und – ich bitte Euch darum, das keinesfalls zu vergessen – ins Unvorhörbare. Kein Titel rahmt es ein. Ein sozusagen Irgendwo–Beginn und -Ende. Es ist, wie es war, für mich, was es ist. Keine speziellen Vorsätze, keine klugen Nachgedanken. Das Leben ist, wie auch die Kunst und wie dieses Video und selbstverständlich wie dieser Abend hier nicht Einbildung, sondern echt.
Ich wünsche Euch Alles Gute.
Was später kommen wird, werden wir sehen.
Michael Pilz, St. Pölten / Wien, den 7. März 1991
© Michael Pilz