Mark Stöhr
Zum Buch Michael Pilz. Auge Kamera Herz, herausgegeben von Olaf Möller und Michael Omasta, Wien 2008, Band 10 der FilmmuseumSynemaPublikationen, 288 Seiten, 200 Fotos, ISBN 978-3-901644-29-0
Manchmal genügen schon Fotos, um eine Entwicklung sichtbar zu machen. Michael Pilz als Schüler im Klosterinternat Stift Zwettl im niederösterreichischen Waldviertel. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, die Haare gescheitelt, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, neben ihm ein Schutzheiliger aus Stein, der streng auf ihn herabblickt. Ein paar Jahre später. Aus dem verschüchterten kleinen Bub ist ein Halbwüchsiger geworden. Die Aufnahme ist unscharf, wahrscheinlich ein Selbstporträt. Mit trotzigem Ernst guckt er in die Kamera, ganz geheuer ist er sich nicht und scheint zu denken: Das bin also ich. Oder: Das könnte ich sein. Das Leben im Konjunktiv geht weiter. Der Wiener Filmstudent Pilz, im langen Cineastenmantel, den Blick eine Spur blasiert eingetrübt, aber auch, auf einem anderen Foto, ausgelassen badend. Die Welt ist ein Spielplatz, die Haare werden länger, über dem Mund wächst ein Bart, die Hosen haben einen Schlag. Der Künstler als Rebell, die coolen Posen sind geliehen von der Zeit. Von den Beatniks dann in die Berge. Michael Pilz macht ernst. Der Regisseur von Himmel und Erde sitzt auf der Stoßstange seines Käfers. Er trägt dicke Wanderstiefel und Kleidung aus grobem Stoff. Die Expedition um den Globus kann beginnen. Pilz reist weit, um sich näher zu kommen. Ein Bild aus der Gegenwart: Ein alter junger Mann, mit Kopfhörern, er horcht, ganz selbstvergessen, ganz bei sich, vom Klosterschüler ist nur noch die Stupsnase übrig. Aber ein Rest bleibt immer.
Das ist die Zwischenbilanz der Pilzschen Selbstwerdung, Stand 2008. Olaf Möller benutzt den aktiveren Begriff der „Ich-Schöpfung“. Die von ihm und Michael Omasta herausgegebene Monografie über den 66-Jährigen zeigt einen lebenslangen Identitätsprozess des Privatmanns wie des Filmemachers, voneinander zu trennen sind beide ohnehin nicht. Die Konzeption des Buchs hält sich an den radikalpersönlichen Ansatz von Pilz, der an der Entstehung eng beteiligt war und aus seinem umfangreichen Archiv eine große Zahl von Dokumenten und Trouvaillen beigesteuert hat. Privatfotos, Projektskizzen, Treatments, das meiste bislang unveröffentlicht. Dazu eine von ihm selbst kommentierte Filmografie und ein zur Ich-Erzählung montiertes Gespräch. Eine Publikation allein über ihn wäre nicht denkbar. So wie seine Filme immer auch von seiner Anwesenheit während des Filmens und Schneidens handeln, ist er auch hier permanent präsent. Mit seinen eigenen Worten wie in denen der anderen.
Pilz‘ Kamera scheine mit seinem Handgelenk zusammengewachsen, schreibt Birgit Flos in ihrem Essay über Windows, Dogs und Horses, eine seiner jüngeren Arbeiten, die Bild- und Tondokumente aus den Jahren zwischen 1994 und 2003 in einem assoziativen Ensemble zusammenführt. „Es geht zunächst nur um das Da-Sein, das Da-Gewesensein“, schreibt Flos weiter und schlägt einen Bogen zu Roland Barthes und seinem Buch zur Fotografie „Die helle Kammer“: „Das Kameraobjektiv hat das so gesehen und aufgezeichnet.“ Pilz tritt völlig unvoreingenommen, absichtslos an sein Sujet heran. Ihm geht es nicht um Bildinformationen, die zu lesen, nicht um Bilderrätsel, die zu entschlüsseln sind. Er überlässt sich seinem eigenen Sehrhythmus, ein Schauen, das buchstäblich vom Herzen kommt. Der Titel der Monografie ist darum treffend gewählt: „Auge Kamera Herz“. Pilz selbst in einem Text aus dem Jahr 1995: „Das durch mich entworfene äußere Bild zeigt an, wie es mir geht, wer ich bin, was mich interessiert, wovor ich mich fürchte, kurz, was ich für mich selber wahrhabe und was nicht.“
Das war nicht immer so. Der Weg zu dieser Art des Films, die untrennbar ist von einem bestimmten Grad des Selbstbewusstseins, des persönlichen wie professionellen, war lang. Pilz‘ Kindheit war geprägt von weitestgehender materieller Sorglosigkeit und einem großen emotionalen Notstand. Zuhause in Gmünd war es eng, Pilz hatte Angst vor seinem Vater, der streng war und nicht selten zum Schlagstock griff. Der Vater war es aber auch, der ihn zum ersten Mal mit Film in Berührung brachte: mit einer 8mm-Kamera, erworben zu Privatzwecken. Pilz erzählt im Gespräch mit Omasta und Möller, wie er den Vater immer vom Ufer aus beim Fischen aufnehmen musste: „Zwischendurch drehte ich die Kamera weg und filmte etwas anderes, das mich mehr ansprach.“ Der erste zarte Versuch eines eigenen Blicks. Nach vielen Jahre Psychoanalyse stellt er einen Zusammenhang her zwischen damals und heute: „Dieses eigenartige Hinschauen, das ich mir angewöhnte, rührt vielleicht doch daher, dass ich aufgrund des bedrohlich erlebten Umfelds und der Tatsache, dass ich mich weder handgreiflich noch sprachlich dagegen wehren konnte, unbewusst […] das Schauen übte und dabei lernte, Zeichen zu lesen und zu entziffern.“
Olaf Möller unterzieht das Werk von Pilz einer geradezu archäologischen Bestandsaufnahme, von seinen ersten filmischen Gehversuchen als Jugendlicher bis zur Gegenwart. Vieles ist verloren, nur die Hälfte sind fertige Filme, der Rest ist Material, das potenziell in Bewegung ist, wie Möller sagt. Auch hier steht die Form- und Selbstfindung des Filmemachers im Vordergrund. Nach dem abgebrochenen Studium an der Filmakademie oszillieren seine Filme in den 60er und 70er Jahren zwischen Avantgarde- und Genreanleihen. „Ein Kino“, schreibt Möller, „aus Musik und Comics, gut gelaunte Genre-Gesten, -Träume, -Pastiches, -Polemiken, immer ein bisschen breit – Pop! They Go.“ Mit Wladimir Nixon (1971) erhält Pilz eine Einladung zu den Filmfestspielen in Venedig und ist mit Leuten wie Fassbinder und Kluge im Programm vertreten. Es folgen lange Jahre als freier Mitarbeiter beim ORF, die einem ständigen Anrennen gegen die rigiden Formatvorgaben des Fernsehens gleichkommen.
1979 dann der radikale Kurswechsel. Pilz bricht nach St. Anna im Obdacher Land auf und beginnt mit den Recherchen und Vorbereitungen zu seinem Masterpiece Himmel und Erde. 1982 ist der Film fertig, ein fünfstündiges Bergbauern-Opus in zwei Teilen. Das Buch widmet ihm ein eigenes Kapitel von Constantin Wulff. Er beschreibt „Himmel und Erde“ als Pionierwerk eines unabhängigen Dokumentarfilmschaffens, das damals durch eine modernisierte Förderpraxis möglich wurde. Doch auch in ästhetischer Hinsicht ist der Film bahnbrechend. Eine solche Melange aus beobachtender Teilnahme und persönlicher Präsenz habe es im dokumentarischen österreichischen Kino bis dahin noch nicht gegeben, so Wulff. Pilz hat damit seine persönliche Handschrift gefunden, im Film selbst vollzieht er den Übergang vom Sozialen zum Subjektiven, vom Außen zum Innen. Die Grenzen sollten in der Folge immer durchlässiger werden – und sind es bis heute geworden.
© Mark Stöhr