Mark Stöhr
Der Filmemacher Michael Pilz im Portrait,
kolik.film, Sonderheft 5/2006, Wien,
März 2006
Eine Fahrt in einer motorisierten Rikscha, Köpfe von Passanten fliegen vorüber, wildes Gewusel am Strassenrand, Hupenlärm, Gas wegnehmen, Gas geben. Das könnte Indien sein. Dann Stille. Eine Tür in einem nachtschwarzen Raum, dahinter Licht. Ein anderer Raum, die Stühle und Tische sind mit weißen Tüchern bedeckt, hier war schon lange keiner mehr. Ein Gewitter erhebt sich, aber an einem anderen Ort, Blitze röntgen das Geäst eines Baumes und reißen es wieder ins Dunkel. Später dann ein Atelier, ringsum technische Apparaturen. Ein Mann legt eine Kassette ein und richtet den Lautsprecher aus, man hört schmatzende Geräusche, als gehe jemand über Kies, das Plätschern einer Quelle. Eine Tasse kommt in den Blick, ein langes Verweilen, das Wasser fließt dazu wie Musik.
Sequenzen aus Michael Pilz’ neuestem Film Windows, Dogs and Horses (2005). Es ist die bislang vielleicht rätselhafteste Montage aus Bild- und Tonfragmenten im über 50 Filme umfassenden Œuvre des Wiener Dokumentarfilmers. Und die vielleicht radikalste Zuspitzung seines ästhetischen Programms, das auf erzählerische Linearität und konventionelle Bedeutungszuschreibungen des Gehörten und Gesehenen verzichtet und sein Material nach fundamentalen Wahrnehmungsparametern wie laut und leise, hell und dunkel, nah und fern komponiert. Ein fast gedankenverlorenes und streng persönliches Arrangement, das schon im Prozeß des Drehens stattfindet. Pilz filmt seinen Gegenstand nach eigenem Bekunden nicht aus dem Kopf, sondern, wenn man so will, aus dem Bauch heraus und achtet unbewusst auf Bildausschnitt und -inhalt, auf grafische Proportionen, Licht, Farbe, Kontraste und Ton; oft schneidet er ganze Passagen schon in der Kamera. Ein intensives Horchen und Schauen, getragen von einer, wie es Freud nannte, frei schwebenden Aufmerksamkeit: frei schwebend und aufmerksam sein und warten, was passiert. Pilz beschrieb dieses selbstvergessene Eintauchen, diese totale Hingabe an das Sujet einmal schön in einem Gespräch mit Christoph Hübner in der 3sat–Reihe „Dokumentarisch Arbeiten“ (2000) — auf die Frage, wie er, der nie ein Stativ benutze, es schaffe, die Kamera so ruhig zu halten: „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, man kommt den Dingen so nahe, äußerlich und innerlich, und vollzieht die Bewegung der Objekte nach, und dadurch verwackelt man die Bilder nicht. Das kann so intensiv sein, da denke ich an nichts. Da schaue ich nur, oder ich höre nur, oder ich bin nur. Und nicht einmal das weiß ich.
Da weiß ich gar nichts (…). In diese Freiheit zu kommen ist schön. Nicht mehr denken. Und nicht einmal mehr tun, sondern tun lassen, eben: nicht tun.“
In Windows, Dogs and Horses forciert Michael Pilz nicht nur die offene und poetische Form seiner dokumentarischen Methode, sondern führt zeitlich und örtlich auseinander liegendes Material in einem einzigen filmischen Raum zusammen. Es sind Bild- und Tondokumente verschiedener Ereignisse und Begegnungen zwischen 1994 und 2003. Trouvaillen seiner vielen Reisen in den letzten Jahren, nach Indien, Afrika, Kuba, Italien oder in die Türkei, von denen teilweise eigene Filme existieren, auch Aufnahmen, die er in unterschiedlichen Regionen Österreichs machte — das eingangs erwähnte Atelier z.B. gehört dem Grafiker und Maler Andreas Ortag aus dem niederösterreichischen Karlstein. Der Film wirkt wie die assoziative Summe disparater kinematographischer Tagebuchnotizen, ein Erfahrungsmosaik, ein Platz, von dem aus sternförmig eine Reihe von Fluchtlinien in die verschiedenen Schichten und Phasen von Pilz’ Arbeit wegführen. Einer Arbeit, durch die sich bei aller handwerklicher Professionalität, bei allem Wissen und bei aller erworbenen Weltgewandtheit bis heute eine Konstante zieht: ein immer neues Staunen.
Wie in Afrika. 1997 fuhr Pilz erstmals nach Zimbabwe. Er begleitete im Rahmen eines Kulturaustauschs die Musiker und Komponisten Peter Androsch, Keith Goddard, Klaus Hollinetz, Lukas Ligeti und den Fotografen Werner Puntigam nach Siachilaba, einer kleinen Siedlung des Bantu–Volks der Tonga. Im Jahr zuvor waren in Linz „Five Reflections on Tonga Music“ entstanden, elektroakustische Variationen auf die Tonga–Musiktradition. Die Musiker, die europäischen wie die afrikanischen, präsentierten einander nun ihr Repertoire, und Michael Pilz dokumentierte diese Konfrontation zweier unterschiedlicher Kulturen. Nicht als Ethnograph, der sich das Andere aneignet und in diskursive Muster zerlegt, sondern als Seh- und Hörkörper, der sich wie eine zusätzliche audiovisuelle Stimme in diese Symphonie des Vertrauten und Fremden einfügt. Er gehe beim Bildermachen meist zunächst vom Hören aus, sagte er einmal, Töne und Geräusche seien für seine Technik des „Von–innen–Herausschauens“ verlässlicher als Bilder, da sie tiefer nach innen drängen. Dieses „Von–innen–Herausschauen“ erzeugt eine eigene Realität, jene von Pilz bei der Wahrnehmung der äußeren, die über eine bloße dokumentarische Aufzeichnung des Faktischen weit hinausgeht. So kommen in dem Afrika–Material, das Pilz zunächst für Exit Only (1997/1998), später dann für Across the River (1997/2004) verwendete, scheinbar bedeutungslose Details in den Blick, die sich bisweilen jedoch als erste, kaum wahrnehmbare Reizpunkte einer ganzen Erregungskette entpuppen: Ein Mann wippt leicht mit dem Kopf und summt leise vor sich hin, fast lethargisch, wenig später tanzt und singt das ganze Dorf.
Im Verlauf dieses ersten Afrika–Aufenthalts macht Pilz die Bekanntschaft des Musikers und Instrumentenbauers Simon Mashoko, eines Virtuosen auf der Mbira, der in Afrika magische Wirkungen zugeschrieben werden und deren Spiel oft in lange kollektive Trancezustände mündet. 2002 kehrt Pilz noch einmal zu Mashoko zurück und montiert aus den Aufnahmen den Film Gwenyambira Simon Mashoko (2002). Ein fast vierstündiges Mammutwerk aus Musik und Gesang, aus Ekstase und Erschöpfung.
Statische Einstellungen, mitunter viele Minuten ohne Schnitt, sind auf Mashoko und sein melodisches Fabulieren gerichtet, keine Untertitel erlauben Ausflüchte in sichere hermeneutische Gefilde, selbst Pilz versteht im Moment der Aufnahme nicht, worum es in den Texten im Einzelnen geht. 1992 hatte er zusammen mit dem Choreographen und Tänzer Sebastian Prantl ein Symposium für Tanz, Musik und Film veranstaltet, das den schönen Titel „Den Käfig der Vögel betreten, ohne sie zum Singen zu bringen“ trug. Dieser geht auf eine Weisheit des Tao–Lehrers Chuang-Tzu zurück, wonach sich die jeweiligen Bedeutungen der Sprache beim Erreichen einer elementaren und ursprünglichen Art von Bewusstsein als unwirksam erweisen. In Gwenyambira Simon Mashoko setzt Pilz diesen ihm wertvollen Lehrsatz um und benutzt die Filmapparatur gleichsam als Koproduzenten eines eher energetischen Bewußtseins, das dem diskursiven Verstehen entgegengesetzt ist. So bleibt das Fremde hier wie in vielen anderen Filmen von Pilz auf den ersten Blick fremd, man muss dem Fremden vertrauen, um es als vertraut zu empfinden. So wie Pilz es tut.
Und man muss Pilz vertrauen. Wenn er zu seinen Ex-peditionen aufbricht und nie den geraden Weg nimmt, mal hier stehen bleibt und eine Entdeckung, und sei sie noch so unscheinbar, von allen Seiten bestaunt, mal dort in eine Seitengasse einbiegt, weil sie seine Neugier erregt – das kann wunderbar und irritierend zugleich sein und erfordert einen Vorschuß an Hinwendung und Aufmerksamkeit. Die Investition lohnt sich, das beweist jeder seiner Filme. Denn Pilz schlurft nicht beim Gehen, sondern er ist ein wachsamer Flaneur, der tatsächlich neue Blickräume eröffnet, sich selbst und dem Betrachter. Und er behauptet nicht – das unterscheidet ihn von vielen seiner Zunft –, schlauer zu sein als seine Zuschauer. Viele der Videoarbeiten sind Works in Progress. Nicht nur als Projekte, auch in ihrer inneren Struktur. Ein behutsames Sich-Nähern und -Orientieren prägt sie, als wüsste der Filmemacher zu Beginn nichts und müsste sich sein Wissen erst langsam erschließen. Wie in Indian Diary (2000), seiner Chronik eines Kuraufenthalts in der südindischen Kleinstadt Changanacherry. Den Blicken aus dem Zimmer folgen erste Erkundungen im Garten des Hospitals Sree Sankara. Dann erweitert sich der Aktionsradius um Ausflüge in die Stadt. Ein viel befahrener Kreisverkehr, eine Prozession von Menschen mit Hüten gleich bunten Christbäumen auf dem Kopf. Pilz’ Staunen ist gleichzeitig unser eigenes Staunen. Die Krankenschwestern betreten die Szenerie und werden als festes Figurenensemble etabliert, das sich durch den ganzen Film zieht. Alltragsrituale werden sichtbar, Massagen, Waschungen, Meditationen, Schritt für Schritt entsteht ein Koordinatensystem, das immer mehr Fixpunkte enthält. Bisweilen löst sich zuerst Rätselhaftes im weiteren Verlauf auf. Wie jene zwei Männer auf dem Dachplateau des Hospitals, auf dem die Wä-sche zum Trocknen aufgehängt wird. Die beiden liegen eingangs auf Matten, als sonnten sie sich, und schauen verdutzt in die Kamera. Später kommt Pilz noch einmal herauf und sieht: Das ist ihr Platz, den sie zum Gebet aufsuchen.
Ein ähnlicher Prozeß vollzieht sich auch in Pilz’ anderem großen Reisefilm Siberian Diary – Days at Apanas (1994/2003), wenngleich hier vor den eigentlichen Beginn Reflexionen über die unterschiedlichen Seh- und Wahrnehmungsweisen voln Wirklichkeit gestellt sind. Jedoch nicht als elaborierte Theoreme, sondern in anekdotischer Form, persönliche Notizen der niederländischen Fotografin Bertien van Manen, die Pilz nach Sibirien begleitet hat. Mit einer gewissen Verwunderung erzählt sie davon, wie sie und ihr russischer Fotografenkollege Pilz häufig gerufen hätten, um sich dies oder jenes anzuschauen, er aber noch oder schon ganz woanders war und seinen ganz eigenen Fährten folgte. Sie beginnt ihre Erzählungen erst auf Englisch, fällt dann mehr und mehr ins Niederländische, und auch hier ist man auf den phonetischen Körper der Worte zurückgeworfen, ein bloßes Hinhören, das auf die Entschlüsselung von Bedeutungen verzichtet. In Apanas, einem kleinen sibirischen Dorf, das sechs Monate im Jahr unter einer tiefen Schneedecke begraben ist und in dem der Filmemacher mit seinen beiden Begleitern einige Tage verbringt, bietet sich das gleiche (Hör-)Bild: Pilz versteht so gut wie kein Russisch und unterhält sich trotzdem – in einer Zwiesprache, die nicht fraternisiert und das Fremdsein zulässt. Und wieder tritt die Kamera in eine fast meditative Beziehung zu den Dingen, die sie findet und nicht sucht, und sie bleibt dabei immer konkret. In einer herkömmlichen Reisereportage hätten die Bewohner wahrscheinlich von der Feindseligkeit der Natur und der Beschwerlichkeit ihres Lebens erzählt, weit weg und vergessen von Moskau, gepaart mit illustrierenden Aufnahmen von Verschneiungen und Verwahrlosung. Bei Pilz wird die Härte fühlbar, das zähe Verstreichen der Zeit, wenn man fast zur Untätigkeit verdammt ist, die dampfige Luft in den überheizten und verrauchten Räumen, die das Objektiv beschlägt, oder allein das Gehen durch den tiefen Schnee, wo jeder Schritt Anstrengung bedeutet und der Körper – wie die Kamera – aus dem Gleichgewicht gerät. 1994 schon führte Pilz das Material erstmals zusammen, in der zehnstündigen Fassung Prisjàdim na dorozku. Selbst die deutlich gekürzte Version von 2003 dauert noch fast zweieinhalb Stunden, und man sieht die abwehrende Handbewegung der Fernsehredaktikonen geradezu vor sich, zumal angesichts einer Ästhetik, die sich jeder linearen Dramaturgie verweigert und aus Sicht des dokumentarischen Mainstreams eine fast subversive Informationspolitik betreibt.
Spätestens seit 1978 hat sich Michael Pilz in seinen Filmen nicht mehr um die Formatvorgaben und Wettbewerbsbedingungen des Marktes geschert. Davor arbeitete Pilz vornehmlich für den ORF, kämpfte aber zur gleichen Zeit als Mitbegründer des „Syndikats der Filmschaffenden“ für ein österreichisches Filmförderungsgesetz, das 1981 dann tatsächlich in Kraft trat und zu einem wichtigen Stützpfeiler von Pilz’ eigenen Projekten wurde. Zum Bruch mit dem Fernsehen kam es im Verlauf der Arbeiten zu Franz Grimus (1977), dem Portrait eines Bauern, für das ihm die Redaktion gerade einmal vier Tage Dreh- und vier Schnitttage einräumen wollte – für Pilz ein skandalös geringes Pensum für eine Person, die einer viel längeren Beschäftigung bedurfte. Seine Antwort folgte 1982: Himmel und Erde, ein fünfstündiges Opus über das Leben in einem Bergbauerndorf in der Steiermark, an dem er fast ein Jahr drehte und zwei weitere Jahre schnitt. Als programmatisches Motto für sein offenes dokumentarisches Konzept, das er hier erstmals in vollem Umfang umsetzte und bis heute konsequent verfolgt, hat er dem Film einen Spruch von Laotse vorangestellt: „Nimm das, was vor dir ist, so, wie es ist, wünsch es nicht anders, sei einfach da.“
Sei einfach da. Das gilt auch für den Zuschauer. In besagtem Interview mit Christoph Hübner sagte Pilz, dass ihm, der fast nur noch auf Video dreht, inzwischen als Präsentationsform die Situation eines Monitors und eines Zuschauers die liebste sei. In einem solchen intimen Raum könne er sich am besten auf den Film konzentrieren und über das Gesehene in ein Zwiegespräch mit sich selbst treten. Und wenn das Publikum sich nicht in gewünschter Weiser auf seine Arbeiten einlässt? „Wenn schon die Kunst nicht wirklich frei ist, obwohl das in den Verfassungen oder Grundgesetzen immer wieder steht, so ist man zumindest als Kunstschaffender in gewissem Sinne frei. Irgendwer hört schon immer wieder zu. Und wenn es niemand ist, dann hört man sich selber zu.
© Mark Stöhr