Thomas Rothschild
Filmbulletin Nr. 5.2000, 42. Jahrgang, Heft Nr. 229, Zürich, Dezember 2000
Das Bild ist knapp links von der Mitte durch einen senkrechten Baumstamm geteilt. Links davon sieht man im Hintergrund jenseits einer Wiese die weißen Mauern und das rötliche Dach eines Gehöfts, im Mittelgrund eine von roten Steinen eingefasste Feuerstelle. In der rechten Bildhälfte: rechtwinkelig zum Wohngebäude eine dunkle Scheune, davor ein großes Gebüsch. Im Vordergrund, stehend, ein Fahrrad, das über den Bildrahmen hinausragt. Ein Mann betritt von recht hinten das Bild, geht hinter dem Baumstamm vorbei zur Feuerstelle, macht sich dort, nicht genau wahrnehmbar, zu schaffen. Aus der Scheune, hinter dem Baumstamm hervor, kommt eine Frau und geht nach rechts vorne aus dem Bild. Der Mann durchquert von der Feuerstelle her das Bild und verlässt es vorbei zwischen Baumstamm und Fahrrad nach rechts vorne. Nachdem er aus dem Bild verschwunden ist, hört man aus dem Off eine Männerstimme über das bevorstehende Mittagessen reden. Die Einstellung dauert 58 Sekunden, also etwa 40mal so lang wie eine Einstellung im heutigen Spielfilm und immer noch achtmal so lang wie eine durchschnittliche Einstellung im klassischen Hollywoodfilm der vierziger Jahre.
Sie stammt aus dem Film mit dem vielsagenden Titel Da capo al fine – Was ich erinnere nicht was ich sehe, und sie ist charakteristisch für den österreichischen Regisseur Michael Pilz. Da capo al fine – Was ich erinnere nicht was ich sehe ist seine jüngste Arbeit, eine ruhige, geduldige Dokumentation des Zusammenlebens und -arbeitens von Künstlern beim Karlsteiner Symposion in der Waldviertler Baumühle. Pilz hat das 1995 gedrehte Material 1999 ediert und heuer bei der Diagonale in Graz uraufgeführt.
Der europäische Film – und erst recht der asiatische, lateinamerikanische, afrikanische Film – hat, das ist bekannt, im Kinoalltag gegen Hollywood längst keine Chance mehr. Eine Generation ist herangewachsen, für die Film und die typische Erzählweise, die typische Oberflächenglätte, die typische Schnittfrequenz amerikanischer Kommerzprodukte identisch sind. Belächelt werden jene, für die Godard, oder Kurosawa, Visconti oder Tarkowskji Gegenstand cineastischer Euphorie waren, die noch ein emphatisches Verständnis von Film und Kunst hatten.
Was für die große Welt gilt, wiederholt sich in Österreich in verkleinertem Maßstab. Befragt, welche österreichischen Filme einem einfallen, wird man wohl zuerst „Hinterholz“, dann vielleicht „Freispiel“, „Müllers Büro“ und wieder „Hinterholz“ genannt bekommen. Nur ein kleiner Kreis von eigensinnigen Narren weiß, dass Österreich auf dem Gebiet des Experimental- oder Avantgardefilms internationales Ansehen genießt.
Wer jedoch von Experimentalfilm spricht, denkt – zumal in Österreich – in der Regel an eine Spielart des Kurz- und Kürzestfilms. Das große Format ist, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, selten. Einer, der seit langem mit ausgedehnten Formen experimentiert, ist Michael Pilz. Daß er bislang ein Geheimtip blieb, hängt wohl zusammen mit der sturen Konsequenz, mit der er sich publikumsfreundlichen Kompromissen verweigert, sowie mit seiner Abstinenz in Hinblick auf Selbstdarstellung und Medienpräsenz. Er ist, so scheint es, ein Grübler, für den das Werk alles, seine Rezeption nur von sekundärer Bedeutung ist.
Selbstreflektivität, eine der Konstituenten des Experimentalfilms überhaupt, bestimmt auch die Filme von Michael Pilz. Sie thematisieren Material und Verfahren, aus und mit denen sie – um mit den russischen Formalisten zu sprechen – gemacht sind. Dabei beschäftigt sich Pilz, wie neben ihm in Österreich nur noch Hans Scheugl, immer wieder mit Problemen der (filmischen) Zeit und des (filmischen) Raums, der bekanntlich eine Täuschung, in Wahrheit nämlich eine (begrenzte) Fläche ist.
Zu den von der Moderne formulierten, aber nicht immer eingelösten Maximen gehört auch jene auf die Romantik zurückverweisende, daß der Prozeß in den Künsten wichtiger ist als das fertige Produkt, das Ergänzungsbedürftige spannender als das harmonisch Geschlossene, der Entwurf nicht weniger bedeutsam als seine Durchführung. Das widerspricht freilich den Ansprüchen einer Konsumwelt, in der nur das zur Ware verdinglichte Kunstwerk Profit ermöglicht. Und auch der öffentliche Subventionsgeber, der sich ja den Mechanismen des Markts entziehen könnte, möchte in der Regel am Ende ein vorweisbares Ergebnis, ein wie immer verwertbares Ding als Legitimation entgegennehmen.
Michael Pilz ist an solch einem Ergebnis allenfalls marginal interessiert. Für ihn ist Filmemachen ein unabgeschlossener und möglicherweise nicht abschließbarer Vorgang, dessen Erkenntniswert und Schönheit gerade im Vorläufigen, in seiner Potenz zur Veränderung besteht. Genau genommen ist das die einzige logische Konsequenz aus der Tatsache, daß sich jedes Kunstwerk ohnedies mit der Zeit und in jedem einzelnen Rezipienten jeweils auf neue und andere Weise realisiert.
1943 im niederösterreichischen Gmünd geboren, gehört Michael Pilz zur Zwischengeneration zwischen den Vätern der Nachkriegsavantgarde, Kren, Adrian, Radax und Kubelka, und der zweiten Experimentalfilmgeneration, die sich später vor allem um Sixpack gruppierte. Er ist nur wenige Jahre jünger als Schmidt Ernst jr. und Hans Scheugl. Die Zahl der Dokumentar-, Spiel-, Experimental- und Fernsehfilme, an denen er in der einen oder anderen Form – meist in mehreren – mitgewirkt hat, ist mit rund einem halben Hundert beachtlich. Er hat auf 8mm, 16mm- und, selten, auf 35mm–Film und seit 1972 mit Video gearbeitet, als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Tonmeister, Cutter und Produzent. Schon 1968/69 hat er mit VOOM auf 8mm einen Vierstundenfilm gedreht. Bereits 1972 war er mit einem 25–Minuten-Film zur Biennale in Venedig eingeladen, vier Jahre später dann mit einem aufgeblasenen Super8–Film nach Cannes. 1977/78 hat er mehr als ein Jahr lang sein vierstündiges Video Szenen aus dem Wiener Milieu aufgenommen. 1979 bis 1982 entstand sein fast fünfstündiger Film Himmel und Erde, der auf elf Festivals gezeigt wurde.
Seit 1993 arbeitete Michael Pilz an seinem jedenfalls vom Umfang her ehrgeizigsten Projekt, an dem mehr als zehnstündigen Video Prisjádim Na Dorozku. Der Titel ist russisch und bezeichnet den Wunsch, sich (auf ein Gläschen Wodka) zusammenzusetzen, ehe man eine Reise antritt. Die Reise, die der Film dann dokumentiert, führt, zusammen mit der holländischen Fotografin Bertien van Manen und dem russischen Fotografen Volodja Shabankov, von Wien und Amsterdam über Moskau nach Sibirien und zurück. Die warme Intimität der Küchengespräche mit ihren Gelb- und Orangetönen kontrastiert mit der winterlichen Schönheit der öffentlichen Außenräume. Das Rußland, das uns Pilz hier zeigt, unterscheidet sich signifikant von jenen immer düsterer werdenden Bildern, die uns die Russen selbst, in umgekehrtem sozialistischem Realismus sozusagen, seit ein paar Jahren mit unermüdlicher Ausdauer liefern. Technisch hat sich Pilz bewußt äußerst eingeschränkt. Eine Oberflächenästhetik liefe seinen Absichten völlig entgegen. Das scheinbar Amateurhafte der Aufnahmen und des Tons ist wesentlicher Bestandteil der zugrundeliegenden Auffassung von filmischem Ausdruck. Nicht nur führt Pilz im Vorspann der „ersten Montage“ die technischen Details der Produktion an, er läßt auch die Zeitmessung eingeblendet, sodaß der Zuschauer ständig an die Kamera und zugleich an den realen Zeitablauf jeder einzelnen Einstellung erinnert wird.
Zunächst ist Prisjádim Na Dorozku zweifellos ein Dokumentarfilm. Er ist aber zugleich ein experimenteller Dokumentarfilm. Manches spricht dafür, den Experimentalfilm nicht, wie gemein hin üblich, als eigene Gattung zu betrachten, sondern als Klassifikation, die zu den Gattungen querliegt. Eine Kreuzklassifikation lässt dann experimentelle und konventionelle Spielfilme, experimentelle und konventionelle Animationsfilme, experimentelle und konventionelle Musikfilme et cetera unterscheiden. Demnach wäre Prisjádim Na Dorozku ein experimenteller Dokumentarfilm, ein Dokumentarfilm also, der neue Wege geht, neue Verfahren ausprobiert.
Die Beteiligung von zwei Fotografen an der Reise – sie sind im Film immer wieder zu sehen – liefert die Vorgabe, dass das Herstellen von Bildern, genau das also, was Pilz mit seinem Film tut, auch zu thematischem Material wird. Gelegentlich sehen wir Bilder von Menschen, die Bilder von Menschen betrachten. Und immer wieder hören und sehen wir Tiere, Hunde vor allem, nüchtern, fast elegisch, jedenfalls aber völlig unsentimental. Die Kamera verharrt oft lange in einer unveränderten Perspektive, dann wieder verselbständigt sie sich zu Schwenks und Zooms. Aktion im traditionellen Sinn gibt es kaum. Der Dialog dient, anders als die äußerst sparsam eingesetzte Musik, nicht der dramaturgischen Entwicklung. Eben so unvermutet und fragmentarisch, wie er auftritt, verschwindet er wieder. Statements in die Kamera bleiben punktuell, werden nicht zu Interviews ausgeweitet. Kann sich einer nicht ausdrücken, wird keine Korrektur angestrebt. Zudem bleiben die fremdsprachigen Gespräche meist unübersetzt, wenn Bertien van Manen nicht als Dolmetsch fungiert. Wer nicht Russisch versteht, muss sie wahrnehmen wie Musik. Manchmal ist das allerdings bedauerlich. An einer Stelle unterhalten sich die Holländerin und der Russe auf russisch darüber, ob das, was Pilz aufnimmt – nämlich die beiden bei ihrer Unterhaltung –, denn interessant sei. Bertien van Manen, die während dieses Gesprächs, von Pilz gefilmt, ihren Gesprächspartner fotografiert, argumentiert, dass das Objekt der Fotografie nicht entscheiden könne, ob das entstehende Bild interessant sei: das liege allein im subjektiven Befinden dessen, der das Bild macht. Die Puppe in der Puppe in der Puppe – und zugleich ein Stück Medienphilosophie, das zu verstehen sich schon lohnte. In einer fast fünfminütigen Einstellung fährt die Kamera vor den beiden Reisegefährten her, die eine gerade Straße entlanggehen. Die Gesichter kann man in der Dämmerung nicht erkennen. Shabankov erzählt auf russisch, akustisch kaum wahrnehmbar, von einer Stelle im Evangelium und von der Notwendigkeit, sie einfachen Menschen verständlich zu machen. Dann wirft er einen Strick, der auf der Straße liegt, zur Seite. Die beiden gehen weiter, schweigen, man hört nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen, aber die Kamera bleibt dran, der Schnitt erfolgt erst viel später; man spürt die Dauer, das Vergehen der Zeit, die faszinierende Spannung in der Handlungs-losigkeit: experimenteller Dokumentarfilm. Im vierten und letzten Teil des Films, der den größten Teil der Moskauer Aufnahmen enthält, fährt die Kamera leitmotivisch immer wieder mit der Rolltreppe der Metro hinunter oder in einem Lift, auf dessen Scheiben mit großen Buchstaben das russische Wort für „sichtbar“ geschmiert ist.
Wie John Cage, der seinen Hörern gelegentlich erlaubt, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen beliebt, verlangt Michael Pilz nicht, daß man seinen Film komplett ansieht. Der Betrachter ist in dem Sinne Mitgestalter, daß er selbst entscheiden kann, ob und wann er zuschaut. Vom Zappen unterscheidet sich das freilich insofern, als das Tempo des Bildwechsels nicht beeinflußt werden kann, Geduld also aufgebracht werden muß, solange man schaut.
Michael Pilz war mehr als zwei Wochen unterwegs und hat dreissig Stunden Videomaterial aufgenommen. Das heißt, auch sein Zehnstundenfilm enthält noch reichlich Ellipsen. Wie aber die einzelnen Einstellungen mit der Zeit umgehen, wie die Montage darauf verzichtet, den Zuschauer anzutreiben – darin besteht das Wagnis dieses Films. Es lohnt, sich darauf einzulassen.
Der jüngste Film von Michael Pilz, Indian Diary — Days At Sree Sankara, besteht aus meist sehr langen Einstellungen und aus Geräuschen, die, eingerahmt von Pachelbels „Kanon“, eine Art Musique concrète, ein „Concert de bruits“ bilden, und kommt, mit Ausnahme von zwischengeschnittenen, rasch reagierenden Aufnahmen mit der Handkamera, ohne Schwenks und Fahrten aus.
Widerstand gegen einen Fernsehalltag, in dem Befrager ihre Gesprächspartner rüde unterbrechen, wenn die für eine Antwort mehr als acht Sekunden in Anspruch nehmen, und die vermutete Replik in einer dümmlichen Drei-Sekunden–Vereinfachung gleich selbst formulieren, leistet auch Bridge To Monticello, der sage und schreibe 5000 Schilling (entspricht 600 Franken) kostete. Es ist charakteristisch für Michael Pilz, dass er sich damit abgefunden hat, dass solch ein Film nicht im Fernsehen gezeigt, geschweige denn eine (teure) Kinokopie hergestellt werden kann. In der Welt der Bill Gates und Richard Branson erscheint einer wie Michael Pilz als Relikt aus einer Zeit, da sich Erfolg noch nicht an der Geschäftstüchtigkeit bemaß. Dafür befindet sich der Österreicher in der ehrenvollen Gesellschaft eines Jean–Luc Godard, dessen HISTOIRE(S) DU CINÉMA eher bei der Kasseler Documenta oder im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen ist als im Kino. Pilz' Portrait eines steirischen Malers, der zur Zeit der Aufnahmen in den USA lebte und über seine Arbeit, aber auch über den nordamerikanischen way of life spricht, läßt den Bildern Raum und den Gesprächen Zeit. Wir dürfen Anteil haben an der Produktion von Gedanken beim Sprechen und auch in der Stille, am Schweigen, das zur Sprache gehört wie die Pause zur Musik. Dieser Film nimmt sein Gegenüber ernst, ohne seine Perspektive zu kaschieren.
Die bislang drittletzte Arbeit von Michael Pilz heißt Pieces Of Dreams und wurde, wie Bridge To Monticello und Da capo al fine – Was ich erinnere nicht was ich sehe, mit einer Videokamera aufgenommen. Es ist dies ein Portrait des Regisseurs Jack Garfein, der 1988 auf Einladung von George Tabori in Wien vier Stücke von Samuel Beckett inszeniert hat. Und wieder: die vertraute Geduld beim Hinschauen und Hinhören, die Vorliebe für die lange Einstellung, mit der eine Traditionslinie von Bresson bis Straub, von Tarkowskij bis Sokurow, Widerstand leistet gegen die Atemlosigkeit von Hollywood und Videoclip.
Kennzeichnend für die Arbeitsweise von Michael Pilz auch dies: Eher zufällig stieß er kürzlich auf das 1988 gedrehte Material und beschloß nun, daraus mit geringen Manipulationen einen Film zu machen. Planung und Improvisation, Disziplin und Spontaneität, Ordnung und Zufall bilden das Spannungsfeld, in dem Michael Pilz seine Kunst produziert: unspekulativ, frei von jedem Gedanken an Karriere, allein eben der Kunst verpflichtet. Ein Fanatiker im besten Sinn. Ein Narr. Es gibt heute zuwenig davon.
© Thomas Rothschild