Christa Blümlinger
anläßlich der Verleihung des Würdigungspreises für Medienkunst 1997 durch die Niederösterreichische Landesregierung, St. Pölten, 16. Oktober 1997
Michael Pilz, geboren 1943 in Gmünd, hat es sich bis heute nicht „gerichtet“, vielleicht ragt er deshalb aus der Landschaft der österreichischen und im speziellen niederösterreichischen Filmkultur sosehr hervor: In erster Linie hinsichtlich seiner Filme und Videos, die er oft unter widrigen Bedingungen, doch fortgesetzt unabhängig und ästhetisch unbestechlich seit 30 Jahren realisiert. In zweiter Linie aber auch als Initiator, künstlerischer wie politischer Aktivist, als wesentlicher Motor eines kulturellen Umfelds, das den „neuen österreichischen Film“ vor über zwanzig Jahren hervorbrachte, als vielen oft unbequemer Zeitgenosse, der eine Errungenschaft (ein Festival, ein Filmförderungsgesetz, eine Filmwerkstatt) nie als etwas Definitives versteht, sondern als etwas Lebendiges, Dynamisches, Veränderbares. Dieser kritische und reflexive Geist durchdringt auch seine filmische Arbeit, der im einzelnen ebenso Vorläufiges (im besten essayistischen Sinne) eignet.
Es ist nicht einfach, einen solch eigenwilligen Künstler zu charakterisieren, dessen Arbeit sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte stets zu erneuern wußte und die nicht auf die Kategorie „Dokumentarfilm“, ja nicht einmal auf „Film“ reduzierbar ist. Michael Pilz befindet sich von Beginn seiner Arbeit an in einem regen Austausch mit der bildenden Kunst, mit Tanz, Performance, Musik, Literatur, trat immer wieder mit Aktionen auf, fotografierte und experimentierte mit verschiedenen Medien, insbesonders auch mit Video. Ob er nun sogenannt dokumentarisch oder sogenannt fiktional arbeitet, ob mit 16 mm, 35 mm oder mit High-8-Video: Für Pilz steht das Wahrnehmen im Zentrum, der Film/das Video als Dispositiv, als Bedingung für die raumzeitliche Organisation einer Betrachtung. Damit ist zunächst das bloße Hinhören und Hinschauen gemeint, aber auch ein Gespür für Begegnungen mit Menschen, für deren Umgang mit dem Raum, in dem sie sich bewegen, mit den Dingen, die sie umgeben. Dieser Sinn für die Wahrnehmung zieht sich durch das gesamte Werk: Von dem spröden Home-Movie Langsamer Sommer (1974/76, den er gemeinsam mit dem Kanadier John Cook realisierte und der im Rahmen jüngster Retrospektiven ein verdientes Revival erfahren hat) über das international vielbeachtete dokumentarische Bergbauernepos Himmel und Erde (1979/82) bis zum experimentellen Spielfilm Feldberg (1987/90), in dem zwei Schauspieler der Landschaft „ausgesetzt“ werden, geht es Pilz immer wieder darum, ein Milieu (keineswegs bloß im sozialen Sinne) einzufangen, eine sinnliche oder psychische Situation (flirrende Hitze, beginnender Regen, ein herannahender Zug, Schlafen, Warten, Phantasieren) darzustellen. Bei Pilz finden zwei radikale Tendenzen des Kinos zusammen: die des Glaubens an die realistische Qualität der filmischen Aufnahme (Film als Spur von Wirklichkeit) und die des Wissens um die Künstlichkeit des filmischen Materials (Film als Gestaltung von Wirklichkeit). Die plastischen Qualitäten des filmischen und Video-Bildes (Körnigkeit, Rahmung, Figuration, Licht) finden bei Pilz ebensolche Aufmerksamkeit wie die „unmittelbaren“ Effekte der dokumentarischen Registratur (das Situative und Momentane der filmischen Szenen).
Michael Pilz wirkte an rund fünfzig Dokumentar-, Spiel-, Experimental- und Fernsehfilmen mit, in unterschiedlichsten, meist mehreren Funktionen: als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Cutter, Tonmeister und als Produzent. Er setzte sich mit allen verfügbaren Formaten auseinander: Von 8 mm über 16 mm und (seltener) 35 mm, bis zu verschiedenen Videoformaten, sogenannten „professionellen“, aber auch solchen, die ihm eine radikale persönliche Handschrift und (als Ein-Mann-Videast) weitgehende Autonomie erlaubten. Die Beweglichkeit der Kamera, das unmittelbare Registrieren, die Wachsamkeit der Sinne, die Möglichkeit, das Schauen geradezu taktil umzusetzen: Diese Haltung verdichtet sich seit 1987 in Pilz‘ Video-Tagebuch-Projekt „Private Eyes“, das inzwischen hunderte von Stunden Material umfaßt. In einer Tradition von Robert Frank und Jonas Mekas, als Wahlverwandter von Filmemachern wie Johan van der Keuken oder Alain Cavalier filmt Michael Pilz mehr oder weniger Alltägliches mit einem subjektiven Blick, der von der intimen Vertrautheit des Cineasten mit seinem Medium zeigt.
Was übersetzt ist noch nicht angekommen (1996), die jüngste filmische Tagebuch-Arbeit von Michael Pilz, ist ein eindrücklicher Ausweis dieses überzeugenden Projektes: Pilz fährt eine Nacht lang mit einem bemerkenswerten New Yorker Taxifahrer durch die Stadt. An dessen Seite sitzend, schauend und hinhörend, manchmal intervenierend, nutzt er seine handliche High-8-Kamera wie ein Schreibinstrument, als „Camera-Stylo“. Die Qualität des Films liegt nicht nur in der vergnüglichen Begegnung mit einem Menschen, der die Nacht, das Kino und Amerikas beeindruckendste Großstadt kennt und seine Fahrgäste unerwartet herauszufordern weiß. Dieses etwa einstündige Video ist ein gutes Beispiel für die gleichzeitig mit Intelligenz und Intuition geführte Pilzsche Kamera und die dieser entsprechenden (zum Teil von der Kamera vorweggenommenen) Montage: Der Sinn des Künstlers für Rhythmus und Kadrage läßt den Zuschauer erstaunliche Blicke und Augenblicke wahrnehmen, in denen Reflexivität und Schaulust einander verstärken. Künstlerischer Dokumentarfilm, dies lebt Michael Pilz geradezu vor, setzt im besten Lumiéreschen Sinne die Fähigkeit zum Selbstportrait voraus.
Aus Anlaß des Preises vielleicht ein Nachwort zu Michael Pilz, dem ehemaligen St. Pöltner Stadtfilmer. Pilz ist Europäer nicht erst, seit es „Europa“ als offizielles kulturelles Projekt gibt und Nationalstaaten sich zunehmend dezentralisieren. Und er ist Niederösterreicher nicht erst seit sich das Projekt der Landeshauptstadt zu realisieren begann: In seiner künstlerischen Arbeit beweist Michael Pilz von Beginn an einen Sinn für das Regionale, das Entlegene und scheinbar Marginale, das im Schatten oder jenseits der Zentren Liegende. Julia Kristevas Diktum („Fremde sind wir uns selbst“) und Jean-Luc Godards ästhetisches Prinzip des „Hier und Anderswo“ könnten als Markenzeichen auch seiner filmischen Erkundungen gelten: Ob bei Bauern am Obdacher Sattel, mit Schauspielern im Weinviertel oder während einer sibirischen Winterreise, Michael Pilz trägt durch seine radikale künstlerische Arbeitsweise zur Möglichkeit der Wahrnehmung des Eigenen durch das Andere bei.
© Christa Blümlinger